«Abschottung»

«Abschottung» hat immer auch psychische, nicht nur gesellschaftliche Ursachen. Was macht Nationalismus, Abschottung und eine so verstandene «Selbstbestimmung» oder «Souveränität» so attraktiv? Offene Grenzen stehen immer auch für einen psychischen Kontrollverlust: eine «impressive Entzügelung» (Werner Janzarik) oder «Überschwemmung», die dann beispielsweise wieder in Flüchtlingen dingfest gemacht werden kann. Begriffe wie «Flüchtlingsflut» oder «Masseneinwanderung» verweisen immer auch auf diese psychische Überschwemmung. Aus existenzial-psychoanalytischer Perspektive ist das Leben selbst ein Kontrollverlust, der in den Grundaffekten Angst und Scham zum Vorschein kommt – und Angst kann mittels Hass auf Fremde, Scham mittels Verachtung von Schwachen abgewehrt werden. Um den Autoritarismus zu verstehen, müssten wir selbst psychoanalytisch werden. Das heisst nicht, dass sich alle «auf die Couch legen» müssen, sondern dass wir gründlicher nachdenken sollten über das, was sich in Phänomenen wie Fremdenfeindlichkeit, Verachtung Schwacher, Antiintellektualismus, Kritikfeindlichkeit, imaginärer Überzeichnung der Frau oder eben «Abschottung» zeigt.

Newsletter der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), Sektion Basel, vom 26.01.2020

Zitate zur «Abschottung» aus Freiheit und Krisis:

«Selbstbestimmung» verkehrt sich zur Selbstzurücknahme aus einer bedrohlichen Welt (zur «Abschottung»): einer Welt, die als Projektionsfläche für die Ananke fungiert und damit noch bedrohlicher erscheint, als sie ohnehin ist. Gefangenschaft im Angst-Hybris-Zirkel gibt sich als «Selbstbestimmung».

Freiheit und Krisis, S. 344

Das Zurückschrecken vor dem Kontrollverlust der psychischen Öffnung und Ich-Fragmentierung beeinflusst auch die internationale Politik und das Völkerrecht. Entsprechend seinem Nein zur psychischen Entgrenzung und Fragmentierung sind für den autoritären Charakter nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch offene Grenzen und die Abhängigkeit von Anderen Reflex eines ontologischen Grauens. Angst wird an offenen Grenzen dingfest gemacht. In diesem Sinne sind Abschottung und Alleingang unter Begriffen wie «Souveränität» oder «Selbstbestimmung» für die autoritäre Persönlichkeit ein nicht verhandelbarer Wert an sich.

Freiheit und Krisis, S. 451

Anerkennung der Verletzbarkeit – das erste Gebot der Ethik der Psychoanalyse – ist Grundlage der Offenheit sowohl des Menschen als auch von Institutionen und Systemen. Den «Entvulnerabilisierungsprozess» (Butler) und die «Versteifung auf die je erreichte Existenz» (Heidegger) bestimmt Kohl als eine Verbarrikadierung in einem geschlossenen System. In der Politik ist hinsichtlich dieser Verschliessung auch von «Abschottung» die Rede. Im Sinne des widerspruchstheoretischen Neins zur Verbarrikadierung – des Neins zu einer wahnhaften Identität, Souveränität und Selbstbestimmung – entspricht die Transnationalisierung (Entgrenzung) des Rechts dem irreduziblen Sinn des Rechts.

Freiheit und Krisis, S. 467

Es gibt nur ein Aussen und ein Sich-Zumachen vor dem Aussen und – wie Wittgenstein sagt – vor der Kälte dort draussen, wo sich alle Fragen in nichts auflösen, weil man die Antwort selber ist. Dass die Freiheit sozusagen beim Anderen liegt und eine Öffnung für den Anderen verlangt – also das Gegenteil von Abschottung –, ist vielleicht die ultimative narzisstische Kränkung in einer ganzen Kaskade narzisstischer Kränkungen der Phylogenese (der Menschheitsgeschichte).

Freiheit und Krisis, S. 492

Heinrich Heine brachte die Abschottung und Wittgensteins Abnehmen der Welt wie folgt auf den Punkt: «Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht Weltbürger, nicht Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.»

Freiheit und Krisis, S. 493

«Seinsentlastung» oder «Flucht vor Freiheit» gelingt über eine Bewegung des Verschliessens, über Abschottung vor dem Begegnenden. «Abschottung» ist – auch in der Politik – eine Flucht vor dem In-der-Welt-sein. «Undemokratische Systeme sind in erster Linie Systeme, die verschliessen, sich dieser Ankunft des Anderen verschliessen, Systeme der Homogenisierung und der vollständigen Berechenbarkeit», so der Philosoph Jacques Derrida in Politik und Freundschaft. «Schliesslich kann man über die Kritik der faschistischen, nationalistischen, totalitären Gewalt im Allgemeinen sagen, dass es Systeme sind, die das ‹Kommende› verschliessen und in der Präsentation des Präsentierbaren einschliessen.»

Freiheit und Krisis, S. 67 f.

Abschottung vor dem Nächsten und vor Fakten ist ein – situativ auch ‹lebensnotwendiger› – Selbstbetrug, der ideologisch zur Selbstbestimmung verkehrt und als Selbstbestimmung verklärt wird (Rationalisierung der Abwehr).

Freiheit und Krisis, S. 68

«Selbstschutz», verstanden als Schutz vor Vulnerabilität, als Schutz der Ich-Identität, geht einher mit einer Abschottung vor dem Begegnenden. «Selbstschutz» (recte: Ego-Schutz) braucht Abschottung. Wenn gesagt wird, der Mensch könne gar nicht anders, als Freiheit abzuwehren, darf dieses Nicht-Können nicht zur Ausrede werden dafür, Freiheit erst gar nicht zu wagen.

Freiheit und Krisis, S. 94

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