Die Fragestellung hinter Freiheit und Krisis lautet: Welcher Sinn versteckt sich hinter den Symptomen Fremdenfeindlichkeit, Antiintellektualismus oder Kritikfeindlichkeit, Schwulenhass und der Verachtung Schwacher oder der Frau? Und wäre eine Gesellschaft, die diesen Sinn zur Sprache bringt, freier? Die Antwort auf die letzte Frage fällt zwiespältig aus.
«Freiheit und Krisis» ist der Versuch, im Interesse von Analyse, gesellschaftlicher Emanzipation und des Rechts die Disziplinen Philosophie, Psychoanalyse und Theologie zusammenzudenken.
In einer Synthese der Philosophie und Psychoanalyse entwickelt Bertschinger ein Affektabwehr-Strukturmodell der Psyche, das Rassismus und Menschenfeindlichkeit verstehbar werden lässt. Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit, die Kennzeichen jedes Autoritarismus sind, erweisen sich existenzial-psychoanalytisch als Angst-, Scham- und Schuldabwehr. Basierend auf einem Freiheitsbegriff, der das Traumatische nicht ausschliesst, lässt sich rationaler Sinn normativer Geltung auf hermeneutisch-anthropologischem Weg aufweisen und damit tiefer fundieren. Der Rechtssinn lässt sich positiv als Begegnung und negativ als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen stellvertretend in Anderen fassen.
Die Arbeit von Matthias Bertschinger zeigt, wie Autoritarismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit mit den Grundaffekten Angst, Scham und Schuld zusammenhängen. Theorie verbindet sich mit konkreten, aktuellen und brennenden gesellschaftlichen Fragen. Angst-, Scham- und Schuldabwehr gelingen über Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit, die Kennzeichen jedes Autoritarismus und Faschismus sind. Menschenfeindlichkeit erweist sich als Technik der Abwehr einer Mangelerfahrung, die in der Denkgeschichte unter Begriffe wie «Absolutes», «Unbewusstes», «Transzendenz», «das Mystische», «In-der-Welt-sein» oder «Freiheit» fallen. Sinn des Rechts ist aus hermeneutisch-anthropologischer, existenzial-psychoanalytischer Sicht ein Nein zur Abwehr dieses Absoluten (respektive seiner Hypostasen Kenosis und Ananke: eines ontologischen Untergehens und Verschlingenden) stellvertretend in Fremden und den Schwächsten der Gesellschaft.
Im ersten Teil des Buches identifiziert Bertschinger die Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit, welche idealtypisch für jeden Autoritarismus und Faschismus sind, psychoanalytisch als Angst-, Scham- und Schuldabwehr. Herausgearbeitet werden auch die psychoanalytischen Spezifika weiterer Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, etwa der Homosexuellenfeindlichkeit und namentlich der Verachtung der Frau: Letztere dient als Projektionsfläche aller Aspekte und Hypostasen einer namenlosen psychischen Grunderfahrung, und je nachdem erscheint sie als verschlingende Urmutter, Hure, Heilige oder als luxuriöses Gut.
Bertschingers Konfliktanalyse bedient sich sinnkritisch-psychoanalytischer, existenzial-ontologischer, phänomenologisch-hermeneutischer sowie ideologiekritischer und sprachanalytischer Methoden. In einer Synthese von abendländischer Denktradition und Psychoanalyse entwickelt Bertschinger ein Strukturmodell der Psyche, das sich grundlegend von demjenigen Freuds unterscheidet: Das Ich erscheint nicht als eine Instanz, die zwischen Es und Über-Ich eingeklemmt ist, sondern als eine abwehrende Instanz, die auf eine sehr selbstbestimmte Weise vor dem «Un-zuhause» (Heidegger) der abgründigen Freiheit in haltgebende Unterdrückungsstrukturen und geschlossene, stabile Weltanschauungen flieht.
Basierend auf seiner psychoanalytischen Konfliktanalyse entwickelt Bertschinger – widerspruchstheoretisch: ausgehend von den sozialen Pathologien respektive den Pathologien der Vernunft – einen Freiheitsbegriff, mit dessen Hilfe sich im zweiten Teil des Buches der rationale Sinn normativer Geltung anthropologisch aufweisen lässt: Der Rechtssinn lässt sich positiv als Begegnung, Exposition (Offenständigkeit und Verletzlichkeit) und negativ als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen stellvertretend in gesellschaftlich Ausgeschlossenen fassen (Diskriminierungsverbot, Verbot der Volksverhetzung). Bertschingers Rechtsanthropologie liefert neue Denkansätze für die Rechtstheorie, Rechtslehre und Rechtspraxis.
Freiheit und Krisis lässt bisherige psychoanalytische und soziologische Entfremdungstheorien und Analysen des Autoritarismus, Faschismus und Totalitarismus in zweierlei Hinsichten hinter sich zurück: Einerseits, was die Syntheseleistung betrifft – erwähnt sei namentlich der Einbezug theologischer Sprechweisen über psychische Zustände und Prozesse –, und anderseits insofern, als versucht wird, die psychoanalytische Logik der Besonderheiten einzelner Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit genau herauszustellen: Die Fremdenfeindlichkeit, die Verachtung Schwacher, die Intellektuellen- und Kritikfeindlichkeit (wozu der Antifeminismus gehört), die Homosexuellenfeindlichkeit sowie die Verachtung (besser: Instrumentalisierung, Besetzung, Kolonialisierung, imaginäre Verzerrung) der Frau unterscheiden sich in ganz bestimmten Hinsichten voneinander. Es wird, so liesse sich sagen, der Versuch einer «Ent-Breiung» dieser Formen vorgenommen, die, wie man nicht erst seit den Studien von Wilhelm Heitmeyers Bielefelder Studien über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit weiss, charakteristisch für jeden Autoritarismus sind: unabhängig von Zeit und Kultur.
Eine Rassismuskritik, die erwachsen werden will, muss psychoanalytisch werden. Das heisst nicht, dass sich «die ganze Gesellschaft auf die Couch legen» muss, sondern dass wir anfangen, psychische Konfliktursachen zur Sprache zu bringen (wir tun es noch nicht). Im Hass auf Fremde, in der Verachtung Schwacher und im Antiintellektualismus, zu dem der Antifeminismus gehört, zeigen sich die Angst-, Scham- und Schuldabwehr (Letzteres nennt man auch «Widerstand»). Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit sind Hauptmerkmale jedes Faschismus. Und Psychoanalyse ist ein Selberdenken in Freiheit (Wilfred Bion). Psychoanalyse ist das eigene Denken der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (bzw. könnte es sein in einer Gesellschaft, die wirklich emanzipativ geworden ist). «Die Psychoanalyse ist das eigene Denken der Jurisprudenz.» (Schlusssatz von Freiheit und Krisis).
Eine längere Zusammenfassung finden Sie hier.
Einen älteren Versuch, in die Thematik einzuführen, finden Sie auf der Plattform «Geschichte der Gegenwart» (hier).
Frage:
Was mich vorgängig interessieren würde: Was umfasst die von Ihnen statuierte «Angst-, Scham- und Schuldabwehr» genau? Soviel ich verstehe, geht es um eine strukturelle innere Schwäche, die es durch autoritäre «Stärke» zu überspielen gilt. Es sind hier neben individuellen Dispositionen ja auch immer Gruppenprozesse im Gang.
(A. B., 13.01.2020)
Antwort:
Angst und Scham beziehen sich auf ein ontologisches «Verschlingendes» (Theweleit spricht von «Körperverschlingung») respektive Untergehen oder Verschlungenwerden (Theweleit von «Körperauflösung»): auf ein ‘Bewusstsein’ respektive ‘Gefühl’ fundamentaler (Schleiermacher: «schlechthinniger») Machtlosigkeit, das entsprechend der Subjekt-Objekt-Spaltung gespalten in den «reinen» (auf ein Absolutes verweisenden) Affekten Angst und Scham zum Vorschein kommt. Angst und Scham beziehen sich auf ein Sein (die Grundsituation des Daseins). Diese beiden Grundaffekte können durch Projektion abgewehrt werden (durch ein Tun): Das «Verschlingende» (Ananke) respektive «Untergehen» (Kenosis) wird auf als bedrohlich imaginierte Fremde respektive auf Schwache projiziert und auf diese Weise dingfest gemacht, was eine Illusion der Handlungsmacht bezüglich der besagten grundlegenden Unverfügbarkeit erzeugt, die im Dasein selbst liegt.
Diese beiden Projektionen (die Angst- und Schamabwehr) werden ideologisch rationalisiert (als «Feindlichkeit» respektive «Faulheit» derjenigen ausgelegt, auf die dasjenige, was sich in der Angst und Scham zeigt, projiziert wird) und damit sozusagen abgesichert (Abwehr der Angst- und Schamabwehr, also Abwehr der Abwehr). Durch Rationalisierung der eigenen Feindbildprojektionen (Kants «Vernünfteln») werden diese beiden Projektionen unsichtbar gemacht (also ihrerseits abgewehrt): Die Verachtung schwacher (Schamabwehr) erscheint vernünftig, weil diese ja faul seien (Abwehr der Abwehr). Hass auf Fremde (Angstabwehr) erscheint vernünftig, weil die ja feindlich gesinnt seien (Abwehr der Abwehr).
Schuld ist in Anlehnung an Heidegger konzipiert als «Ruf des Gewissens», solche imaginären Selbsttäuschungen mit Kollateralschaden für Ausgeschlossene, Diskriminierte zu unterlassen. Der Schuldaffekt kann abgewehrt werden stellvertretend in Kritik- und Empathiefähigen, die zu Kritik und Verantwortungsübernahme aufrufenden und damit den Ruf des Gewissens repräsentieren. Schuldabwehr gelingt dadurch, dass solchen «Eliten» in einer ideologischen Verkehrung Machtanmassung, Arroganz, Hysterie usw. unterstellt wird (Niveau erscheint aus Sicht des autoritären Charakters immer als Arroganz). Schuld bezieht sich im Gegensatz zu Angst und Scham, die sich auf ein Sein (auf die eigene Situation, auf die Grundsituation des Daseins) beziehen, auf ein Tun oder Unterlassen (respektive auf ein ‘Wissen’ darüber – siehe «Gewissen»). Der Schuldaffekt zeigt letztlich an, dass man Angst und Scham zum Schaden anderer und zum Schaden der eigenen psychisch-geistigen Offenständigkeit auf wahnhafte Weise abwehrt. Er ist ein «Wissen um» (Gewissen), ein Wissen um eine Verschliessung vor dem Begegnenden, der Welt und vor sich selbst.
Angst und Scham werden eher imaginär abgewehrt: durch ein ‘Hineinsehen’ des ontologischen Verschlingenden, das auf Fremde projiziert wird (Hass), und des ontologischen Untergehens, das auf Schwache projiziert wird (Selbsthass).
Abwehr der Abwehr (Hass- und Selbsthass-Abwehr, also Abwehr der Angst- und Schamabwehr) sowie Schuldabwehr geschehen eher sprachspielerisch auf dem Weg ideologischer Verkehrungen (es scheint bspw. vernünftig, Repräsentanten des Rufs des Gewissens schlechtzumachen, da sie ja arrogant, anmassend, überheblich, abgehoben, ideologisch usw. sind).
Die «individuellen Dispositionen», wie Sie sagen (Peter Widmer spricht von einer traumatischen Verfassung des Subjekts), können gerade in Gruppenprozessen ‘bewältigt’ werden (insofern ist da kein «neben» auszumachen).