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Autor-Archive: Matthias Bertschinger
Drei Gründe gegen das Burkaverbot
«Abschottung»
«Abschottung» hat immer auch psychische, nicht nur gesellschaftliche Ursachen. Was macht Nationalismus, Abschottung und eine so verstandene «Selbstbestimmung» oder «Souveränität» so attraktiv? Offene Grenzen stehen immer auch für einen psychischen Kontrollverlust: eine «impressive Entzügelung» (Werner Janzarik) oder «Überschwemmung», die dann beispielsweise wieder in Flüchtlingen dingfest gemacht werden kann. Begriffe wie «Flüchtlingsflut» oder «Masseneinwanderung» verweisen immer auch auf diese psychische Überschwemmung. Aus existenzial-psychoanalytischer Perspektive ist das Leben selbst ein Kontrollverlust, der in den Grundaffekten Angst und Scham zum Vorschein kommt – und Angst kann mittels Hass auf Fremde, Scham mittels Verachtung von Schwachen abgewehrt werden. Um den Autoritarismus zu verstehen, müssten wir selbst psychoanalytisch werden. Das heisst nicht, dass sich alle «auf die Couch legen» müssen, sondern dass wir gründlicher nachdenken sollten über das, was sich in Phänomenen wie Fremdenfeindlichkeit, Verachtung Schwacher, Antiintellektualismus, Kritikfeindlichkeit, imaginärer Überzeichnung der Frau oder eben «Abschottung» zeigt.
Newsletter der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), Sektion Basel, vom 26.01.2020
Zitate zur «Abschottung» aus Freiheit und Krisis:
«Selbstbestimmung» verkehrt sich zur Selbstzurücknahme aus einer bedrohlichen Welt (zur «Abschottung»): einer Welt, die als Projektionsfläche für die Ananke fungiert und damit noch bedrohlicher erscheint, als sie ohnehin ist. Gefangenschaft im Angst-Hybris-Zirkel gibt sich als «Selbstbestimmung».
Freiheit und Krisis, S. 344
Das Zurückschrecken vor dem Kontrollverlust der psychischen Öffnung und Ich-Fragmentierung beeinflusst auch die internationale Politik und das Völkerrecht. Entsprechend seinem Nein zur psychischen Entgrenzung und Fragmentierung sind für den autoritären Charakter nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch offene Grenzen und die Abhängigkeit von Anderen Reflex eines ontologischen Grauens. Angst wird an offenen Grenzen dingfest gemacht. In diesem Sinne sind Abschottung und Alleingang unter Begriffen wie «Souveränität» oder «Selbstbestimmung» für die autoritäre Persönlichkeit ein nicht verhandelbarer Wert an sich.
Freiheit und Krisis, S. 451
Anerkennung der Verletzbarkeit – das erste Gebot der Ethik der Psychoanalyse – ist Grundlage der Offenheit sowohl des Menschen als auch von Institutionen und Systemen. Den «Entvulnerabilisierungsprozess» (Butler) und die «Versteifung auf die je erreichte Existenz» (Heidegger) bestimmt Kohl als eine Verbarrikadierung in einem geschlossenen System. In der Politik ist hinsichtlich dieser Verschliessung auch von «Abschottung» die Rede. Im Sinne des widerspruchstheoretischen Neins zur Verbarrikadierung – des Neins zu einer wahnhaften Identität, Souveränität und Selbstbestimmung – entspricht die Transnationalisierung (Entgrenzung) des Rechts dem irreduziblen Sinn des Rechts.
Freiheit und Krisis, S. 467
Es gibt nur ein Aussen und ein Sich-Zumachen vor dem Aussen und – wie Wittgenstein sagt – vor der Kälte dort draussen, wo sich alle Fragen in nichts auflösen, weil man die Antwort selber ist. Dass die Freiheit sozusagen beim Anderen liegt und eine Öffnung für den Anderen verlangt – also das Gegenteil von Abschottung –, ist vielleicht die ultimative narzisstische Kränkung in einer ganzen Kaskade narzisstischer Kränkungen der Phylogenese (der Menschheitsgeschichte).
Freiheit und Krisis, S. 492
Heinrich Heine brachte die Abschottung und Wittgensteins Abnehmen der Welt wie folgt auf den Punkt: «Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht Weltbürger, nicht Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.»
Freiheit und Krisis, S. 493
«Seinsentlastung» oder «Flucht vor Freiheit» gelingt über eine Bewegung des Verschliessens, über Abschottung vor dem Begegnenden. «Abschottung» ist – auch in der Politik – eine Flucht vor dem In-der-Welt-sein. «Undemokratische Systeme sind in erster Linie Systeme, die verschliessen, sich dieser Ankunft des Anderen verschliessen, Systeme der Homogenisierung und der vollständigen Berechenbarkeit», so der Philosoph Jacques Derrida in Politik und Freundschaft. «Schliesslich kann man über die Kritik der faschistischen, nationalistischen, totalitären Gewalt im Allgemeinen sagen, dass es Systeme sind, die das ‹Kommende› verschliessen und in der Präsentation des Präsentierbaren einschliessen.»
Freiheit und Krisis, S. 67 f.
Abschottung vor dem Nächsten und vor Fakten ist ein – situativ auch ‹lebensnotwendiger› – Selbstbetrug, der ideologisch zur Selbstbestimmung verkehrt und als Selbstbestimmung verklärt wird (Rationalisierung der Abwehr).
Freiheit und Krisis, S. 68
«Selbstschutz», verstanden als Schutz vor Vulnerabilität, als Schutz der Ich-Identität, geht einher mit einer Abschottung vor dem Begegnenden. «Selbstschutz» (recte: Ego-Schutz) braucht Abschottung. Wenn gesagt wird, der Mensch könne gar nicht anders, als Freiheit abzuwehren, darf dieses Nicht-Können nicht zur Ausrede werden dafür, Freiheit erst gar nicht zu wagen.
Freiheit und Krisis, S. 94…
Das Subjekt der Universität
Vor lauter Fächern und Unterfächern geraten Grundlage, Sinn und Ziel der Bildung aus dem Blick: der freie, mündige Mensch. Der Überblick verschwindet hinter Fächergrenzen und aufgetürmtem Wissen, das sich gern vorträgt und vortragen hört. Übrig bleibt die Frage: Bildung – wozu? Übrig bleibt inhaltsleerer, funktionalisierbarer Formalismus, für den das Erkennen kein Wert an sich ist. Übrig bleibt der Aufkläricht (Lessing). Übrig bleibt «die kulturwissenschaftliche Linke» (Michael Hampe), das Subjekt der Universität (Jacques Lacan). Übrig bleibt Rudolf Strahm.
Übrig bleibt der Maschinenmensch, der ungebildete Mensch, der manipulierbare Mensch, das Exemplar, das Opfertier und sein Bild von sich: Das Opfer von Verhältnissen, das Opfer von Triebregungen, das Opfer der geschichtlichen Situation, das Opfer der Erziehung – «Rassismus ist nur anerzogen!», schreit das Subjekt der Universität –, das Opfer von Gehirnströmen, das Opfer von Hormonen und Mormonen (und von verführerischen Sekten und Politsekten überhaupt), das Opfer von Kindheitstraumata und -reminiszenzen, das Opfer der Evolution, das Opfer der Sozialisation, das Opfer der Norm und Struktur (oder des Patriarchats), das Opfer des Kapitalismus, das Opfer invasiver Signifikanten, der Sprache, die angeblich entfremdet, das Opfer kognitiver Schwäche – kurz: der unfreie Mensch.
Solche Ideologien der Fremdbestimmung häufen sich auch innerhalb einzelner Disziplinen – die Psychoanalyse nicht ausgenommen. Der Psychiater Irvin D. Yalom zählt diese Opferideologien (Menschenbilder, «Modelle») innerhalb der Psychologie auf: «Die existenzielle therapeutische Position [lies: eine existenzial-psychoanalytische Herangehensweise] legt dar, dass das, was es uns so schwer macht [lies: woran wir leiden], nicht nur unserem biologisch-genetischen Substrat (ein psychopharmazeutisches Modell) entspringt, nicht nur unserem Kampf mit unterdrückten instinktiven Trieben (ein freudscher Standpunkt), nicht nur an wichtigen, von uns verinnerlichten Erwachsenen hängt, die vielleicht nicht mitfühlend, nicht liebevoll oder neurotisch waren (eine objektbezogene Position), dass es nicht nur gestörte Denkformen (eine Position der kognitiven Therapie) sind, nicht nur Scherben vergessener traumatischer Erinnerungen oder aktuelle Lebenskrisen […], sondern dass es auch – die Konfrontation mit unserer Existenz ist.» (Irvin D. Yalom, In die Sonne schauen, München 2008, S. 192 f.)
Aus welchem Grund der Mensch seinen Verstand auch gern ohne äusseren Anlass opfert und sich sozusagen «ohne Not» um Mündigkeit drückt, taucht in den medialen und wissenschaftlichen Konfliktanalysen als Frage nicht einmal auf. Freiheit? Den Menschen als Freien ansprechen? Ihm Freiheit zuzumuten, zumal Freiheit eine Zumutung ist? Darüber, und wie das Weltöffnende mit dem Weltstürzenden zusammenhängt, fehlt jede Reflexion. Und so steht der universitäre Opferdiskurs rat- und machtlos vor dem Umstand, dass Menschen sich gern als Opfer einer beschworenen Überfremdung begreifen oder als Opfer – ausgerechnet! – der Schwächsten: als hysterische Opfertiere, die andere opfern müssen, um den Abgrund der ‘eigenen’ Freiheit loszuwerden – einen Abgrund, den sie zwar noch an sich spüren, aber nicht reflektieren.
Wozu auch? Dieses Etwas lässt sich nicht messen, und was man nicht messen kann, gibt es nicht – räsoniert der Soziologe, der nach Theweleit auch noch stolz darauf ist, von Psychoanalyse keine Ahnung zu haben. Fremde und Schwache haben etwas mit dem Absoluten zu tun, das die Freiheit ist, und dieses Absolute ist keine Wohlfühloase. Das Absolute erscheint mit dem Fremden. Die ganze abendländische Mythologie und Transzendenzreflexion weiss das – so, wie man so etwas überhaupt wissen kann. Doch die Metaphysik (verstanden als Nachdenken über das Inkommensurable, Absolute) ist abgeschafft. Fragt sich nur, ob zu unserem Glück.
Das Subjekt der Universität ist der letzte Mensch. Es identifiziert den Diskurs der Rechten als Beschwörung, aber seine eigene Hysterie sieht dieses Subjekt nicht. Nicht in den Blick geraten seine «Geistfeindschaft» (Adorno), seine Ideologien der Fremdbestimmung, seine Privationstheorien, die sich türmen und wie Betonmauern jede Sicht verstellen, dafür aber eine imaginäre Sicherheit bieten. (Aufgrund dieses Täuschungscharakters gilt die Universität unter psychoanalytischen Gesellschaftstheoretiker_Innen als Idealtypus der Zwangsneurose.) Das unfreie Subjekt ist das Produkt der Universität. Streng genommen kann man es gar nicht ansprechen (und deshalb haben Linke und Liberale ein Rekrutierungsproblem), denn ansprechbar ist nur der freie Mensch, oder besser: der freie Teil in uns, der sich öffnet und damit seine Verletzlichkeit hinnimmt.
Vulnerabilität und Sterblichkeitssalienz sind die Kehrseite der Öffnung und des Vertrauens. Dieser Zusammenhang muss zur Sprache kommen in einer Gesellschaft, die emanzipativ werden will. Davon sind wir weit entfernt: «Wir sind [noch] nie modern gewesen» (Bruno Latour): Der «zweite Akt der Aufklärung» (Ernst Bloch) steht noch aus.
Die freie Gesellschaft wird daran zu erkennen sein, dass Ethik und Analyse koinzidieren (Theorie): Unrecht ist in erkenntniskritischer Hinsicht eine Selbsttäuschung (Adorno). Vielleicht wird Freiheit in einer solchen kommenden, konkret-utopischen Gesellschaft lebbar. Gelebte, hervorgebrachte Freiheit (Metanoia) ist eine Koinzidenz von Sein und Sollen in der (und durch die) Tat (Praxis). Auf diese Weise hängen Psychoanalyse (Theorie) und Marxismus (Praxis) zusammen (und Praxis ohne Theorie ist blind). Beide – Psychoanalyse wie Marxismus – bedeuten den Untergang für den autoritären Charakter (Paul Tillich), der die abgründige Freiheit stellvertretend in Fremden und Schwachen hasst.
Die freie Gesellschaft wird daran zu erkennen sein, dass die Universität theoretisch geworden ist und sich ihrer ideologischen, privationstheoretischen Menschenbilder entledigt hat.
(aktualisiert am 16.12.2019)…
Freiheit und Krisis. Wir brauchen ein radikales Umdenken – auch in der Rechtstheorie!
Autor/Autorin: Matthias Bertschinger
Beitragsart: Essay
Rechtsgebiete: Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie
Ursprünglich erschienen/Zitiervorschlag: Matthias Bertschinger, Freiheit und Krisis, in: Jusletter 28. Oktober 2019
Basierend auf einem Freiheitsbegriff, der das Traumatische nicht ausschliesst, lässt sich der Rechtssinn positiv als Begegnung und negativ (widerspruchstheoretisch) als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen stellvertretend in Anderen fassen – als Nein zu Rassismus und Menschenfeindlichkeit.
Le sens du droit, s’il se base sur un concept de liberté qui n’exclut pas son aspect traumatique, peut être compris, positivement, comme une rencontre et, négativement, comme un refus que le traumatisme soit représenté par un tiers, voire, comme un refus du racisme et de la haine de l’autre.
[1] Weltweit erstarken nationalistische, autoritäre, reaktionäre, faschistoide, chauvinistische und anti-aufklärerische Bewegungen, die sich alle durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auszeichnen. Nicht oder kaum zur Sprache kommt in den herrschenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konfliktanalysen der psychoanalytische Sinn (die psychoanalytische Dimension) gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder gesellschaftlicher Ausschluss-Diskurse. Vorherrschend sind funktionalistische, soziologistische, ökonomistische, biologistisch-naturalistische, szientistische oder triebtheoretische Erklärungsmodelle.
[2] In einer Synthese von Philosophie und Psychoanalyse werden Rassismus und Menschenfeindlichkeit hermeneutisch-anthropologisch, existenzial-psychoanalytisch – und das heisst: tiefer, tiefenpsychologisch – verstehbar: Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit (respektive Kritikfeindlichkeit), die idealtypisch für jeden Autoritarismus und Faschismus sind, erweisen sich existenzial-psychoanalytisch als Angst-, Scham- und Schuldabwehr.
Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit
[3] Fremde symbolisieren eine namenlose (ontologische) Bedrohung, die im Leben selbst liegt, und Schwache ein namenloses Untergehen oder Scheitern, welches wir selber sind. Die Abwehr dieses Traumatischen, Namenlosen, Absoluten stellvertretend in Fremden und Schwachen ist in ethischer Hinsicht die Menschenfeindlichkeit respektive Gleichgültigkeit und in epistemologischer, erkenntniskritischer Hinsicht eine Selbsttäuschung (THEODOR W. ADORNO). Das bis heute noch kaum richtig Durchdachte sei, wie die Abwehr des Traumatischen mit Moral und Ethik – dem metaphysischen «Du sollst» – zusammenhängt, so ADORNO vor 50 Jahren in seiner Metaphysik-Vorlesung. Um Rassismus zu verstehen, müssen wir schonungsloser werden im Denken. Eine von SIGMUND FREUD emanzipierte, moderne, existenzial verfahrende Psychoanalyse betreibt ein solches «Denken ohne Geländer» (HANNA ARENDT), erkennt es aber auch als ein Denken, das bereits in der ganzen Denkgeschichte anzutreffen oder angelegt ist: Es gibt etliche Psychoanalytiker avant la lettre (ROBERT HEIM) – zu denken ist an SCHLEIERMACHER, SCHELLING, SCHOPENHAUER, KIERKEGAARD, NIETZSCHE, HEIDEGGER, aber auch an KANT.
[4] Eine Subjekt- und Erkenntniskritik, die – wie beispielsweise bei ADORNO – auf hermeneutisch-anthropologische, existenzial-psychoanalytische Weise auf den Aspekt der Selbsttäuschung hinter Unrecht oder Gleichgültigkeit aufmerksam macht (Koinzidenz von Ethik und Analyse), und die folglich sowohl die Moral («Begegne!», «Exponiere Dich!», «Zeige Dich verletzlich!») als auch die intellektuelle Redlichkeit («Sei kritisch!», «Belüge Dich nicht selbst!») hochhält – eine solche Haltung oder Offenheit des Geistes und der Psyche (Koinzidenz von Sein und Sollen), die aussetzt und die man sich hauptsächlich selber schuldig ist, kann stellvertretend in Intellektuellen abgewehrt werden (Widerstand, Schuldabwehr), die sich mit ihrer politischen Korrektheit gegen Rassismus, Unrecht und Menschenfeindlichkeit und gegen den damit verbundenen Selbstbetrug – sprich: gegen die Nicht-Selbstwahl – stellen. Intellektuelle symbolisieren den Ruf des Gewissens (Schuldaffekt, Schuldbewusstsein), und dieser Ruf kommt nicht von im Über-Ich internalisierten Autoritäten her, sondern von der Freiheit. Selbst FREUD kannte dieses andere, zweite oder «wahre» Gewissen und sprach von einer leisen Stimme des Intellekts. Intellektuelle und Empathiefähige (besser: Empathiewillige) stehen für (oder erinnern an) den Ruf dieses anderen Gewissens, der zu Exposition und Begegnung anhält. Autoritarismus ist eine Verschliessung der Psyche, ein Symptom für fehlenden Mut zu Öffnung und Verletzlichkeit. Verletzlichkeit ist die Kehrseite der Offenheit (Freiheit), und Offenheit, Vertrauen, Begegnung, Exposition und Konfrontation sind Grundlage aller sozialen Systeme und Subsysteme – auch des Rechtssystems.
[5] Der existenzial unabweisliche Ruf des Gewissens kommt von der Freiheit her, und «Freiheit und Transzendenz des Daseins sind identisch!» (MARTIN HEIDEGGER). ERNST BLOCH spricht hinsichtlich einer so verstandener Transzendenz oder Freiheit von einem «Transzendieren ohne Transzendenz», einem «Exodus aus dem Statischen». Freiheit hat neben dem faszinierenden einen erschreckenden Aspekt, sie ist fascinosum und tremendum (RUDOLF OTTO). Zudem weist sie zwei Hypostasen auf: das bereits erwähnte namenlose Untergehen (Kenosis – aber auch Ekstasis) und die ebenfalls bereits erwähnte namenlose Bedrohung (Ananke – aber auch Pleroma). Die Ananke spielt auch in FREUDS klassischer Psychoanalyse eine wichtige Rolle – allerdings als eine auf das «Realitätsprinzip» reduzierte, verkürzte, naturalistisch ontifizierte (verdinglichte) Ananke (ein existenzial-psychoanalytisches Strukturmodell der Psyche ist abrufbar unter https://www.freiheitundkrisis.ch/strukturmodell.pdf). Der Kulturtheoretiker KLAUS THEWELEIT, der zu Recht ein Fehlen des psychoanalytischen Denkens in den Wissenschaften beklagt, spricht hinsichtlich der Ananke von «Körperverschlingung» und hinsichtlich der Kenosis von «Körperauflösung». Wir sind traumatisch verfasst (PETER WIDMER) und – «ob bewusst oder unbewusst» (RUDOLF BULTMANN) – ständig auf unsere traumatische Verfassung bezogen (ein Transzendenz- respektive Freiheitsbezug).
Abwehr eines Seins, eines Tuns und eines Wissens
[6] Fremdenfeindlichkeit respektive Angstabwehr richten sich ihrem verschlüsselten Sinn nach gegen die Ananke (das Kastrierende, Verschlingende, JACQUES LACANS «Reale»), die Schwachenfeindlichkeit respektive Schamabwehr gegen die Kenosis (die Kastration, JEAN-PAUL SARTRES und LACANS «Mangel-an-Sein») und die Kritikfeindlichkeit respektive Schuldabwehr (psychoanalytisch: «Widerstand») gegen die Metanoia (Umkehr, Selbstwahl). Abgewehrt werden die drei Grundaffekte oder Grundbefindlichkeiten Angst, Scham und Schuld. Alles in allem wird der Tod in concreto abgewehrt: das gelebte «Sein zum Tode» (HEIDEGGER), der «inständige Tod» (HANS KUNZ), der tremendum-Aspekt der Transzendenz, SARTRES «Nichts», die Krisis oder – psychiatrisch-psychoanalytisch gesprochen – die präpsychotische Dekompensation (eine ontologische, mit der menschlichen Existenz gegebene Verzweiflung, das gegenwärtige «Urtrauma»). Zusammen mit ihrem tremendum-Aspekt wird die Freiheit als ganze abgewehrt – also auch ihr fascinosum-Aspekt (das Staunen, das Mystische, das Ekstatisch-Pleromatische, welches auf Objekte wie die Heimat projiziert wird). Das Abgewehrte, «Tiefenpsychische» ist das «In-der-Welt-sein» (HEIDEGGER): eine gelebte, präreflexive, präintentionale und vor-prädikative Unverfügbarkeits- und Sterblichkeitssalienz (kein abstraktes Wissen).
[7] Angst- und Schamabwehr, ideologische Hass- und Selbsthass-Abwehr (ideologische Verschleierung der Angst- und Schamabwehr durch IMMANUEL KANTS «Vernünfteln») sowie die Schuldabwehr (Widerstand gegen den Ruf zu Freiheit, Verantwortung und eigener Urheberschaft) erweisen sich als drei übereinander gelagerte Grade des psychoanalytischen «Agierens» (des Inszenierens psychischer Brüche und Konflikte in der Welt und stellvertretend in Anderen). In Entsprechung zu diesen drei Graden des Inszenierens lassen sich – daseinsanalytisch, ausgehend von einer Analyse gelebter Lebens- und Konfliktvollzüge …