Drei Gründe gegen das Burkaverbot

Die Argumente der Befürworter des Burkaverbots sind eingängig und verführerisch, aber falsch. Drei Argumente gegen die Initiative:

  1. Der Initiative geht es um Ausgrenzung

Das Egerkinger Komitee wirbt auf seiner Website mit dem Slogan «Stopp der Islamisierung der Schweiz» für ihre Initiative. Es verhehlt damit nicht, dass sich die Initiative gegen den Islam als solchen und gegen Personen muslimischen Glaubens überhaupt richtet. Sexismus und Unterdrückung ortet man nur bei den anderen («Gleichstellungsnationalismus»). Zu glauben, es gehe den Männern des Egerkinger Komitees um die Befreiung der Frau, wäre grotesk. Wie mit seiner Minarettinitiative bewirtschaftet das Komitee ein Feindbild im Interesse der Machtpolitik. Verführerisch ist dieses Feindbild-Angebot, weil sich damit komplexe, undurchsichtige und teils unverfügbare Bedrohungen an konkreten Objekten festmachen lassen («Komplexitätsreduktion»): Bedrohungen aller Art werden dadurch scheinbar greifbar, kontrollierbar («Angstabwehr»). Deshalb eignen sich Feindbilder so gut für unverschämte Machtpolitik.

  1. Die Initiative gefährdet auch unsere eigenen Grundrechte

Die BefürworterInnen argumentieren, man müsse Burka oder Nikab nicht tolerieren, weil sie Ausdruck eines extremistischen Weltbildes seien. Diese ‘Argumentation’ kann leicht auf einen selber zurückfallen: Wenn Grundrechte nur für diejenigen gelten, die eine Mehrheit nicht irritieren, könnte es auch Sozialistinnen, Evangelikale, SVPler und andere Gläubige treffen.

  1. Die Initiative nützt keiner einzigen Frau

In der Schweiz leben ein paar Dutzend vollverschleierte Frauen. Doch nur schon die Befreiung einer einzigen Frau erfüllt den Zweck der Initiative, liesse sich hier einwenden. Dazu abschliessend wiederum drei Einwände: Erstens ist der Zwang zur Verhüllung bereits heute verboten (Nötigung). Zweitens haben europäische Studien gezeigt, dass ein Grossteil der betroffenen Frauen sich aus eigener religiöser Überzeugung verhüllen. Drittens ist unterdrückten Frauen nicht geholfen, wenn man sie für ihre Unterdrückung bestraft: Gegen unterdrückende patriarchale Verhältnisse helfen Kontaktangebote und Rechtsstaatlichkeit.

Ergebnis: Die Initiative ist rassistisch motiviert und bietet eine falsche Lösung für ein Problem, das nicht existiert.

Nachtrag vom 02.02.2021:

Im Kern geht es um Missbrauch der Volksrechte für Verhetzung, um die Pervertierung von Demokratie, doch leider wird dies viel zu selten in aller Deutlichkeit ausgesprochen:

«Mit Volksinitiativen wie der Minarett- oder Burkaverbotsinitiative werden mächtige Feindbilder aufgebaut, die der Abwehr der Freiheit dienen. ‹Das Raketenplakat der SVP gegen Minarette wurde zum rechtsextremen Exportschlager› (Anna Jikhareva) – die Schweiz ist, wie eingangs gezeigt, leider auch in dieser Hinsicht weltweit ein Vorbild. Die ‹Sachfragen› sind vorgeschobene Rationalisierungen des Hasses, die auch die Initiativgegner für bare Münze nehmen: Die Gegner diskriminierender Volksbegehren agieren häufig mit, indem sie das Vorgeschobene nicht als das Vorgeschobene bezeichnen und den Hass hinter dem Vorgeschobenen nicht beim Namen nennen. Die Beweggründe hinter der vorgeschobenen Rationalisierung «lauten auf töten wollen», so Theweleit.
Grundrechte werden mit Berufung auf Grundrechte angegriffen. Der Angriff auf Freiheitsrechte wird mit Berufung auf die Freiheit, die Selbstbestimmung oder die Emanzipation verschleiert. Diffamierungskampagnen werden als Volksinitiativen getarnt, so der Autor und Regisseur Serdar Somuncu. Wenn die AfD für Deutschland mehr direkte Demokratie fordert, meint sie solche Diffamierungs- und Hasskampagnen. Volksverhetzung gibt sich als Demokratie. Hinter der Forderung von AfD und NPD nach Volksabstimmungen stecke der Kampf gegen Minderheiten, so Jürgen P. Lang. Mit Recht und Demokratie hat dies nichts mehr zu tun.»

(Freiheit und Krisis, S. 409 f.)

«Abschottung»

«Abschottung» hat immer auch psychische, nicht nur gesellschaftliche Ursachen. Was macht Nationalismus, Abschottung und eine so verstandene «Selbstbestimmung» oder «Souveränität» so attraktiv? Offene Grenzen stehen immer auch für einen psychischen Kontrollverlust: eine «impressive Entzügelung» (Werner Janzarik) oder «Überschwemmung», die dann beispielsweise wieder in Flüchtlingen dingfest gemacht werden kann. Begriffe wie «Flüchtlingsflut» oder «Masseneinwanderung» verweisen immer auch auf diese psychische Überschwemmung. Aus existenzial-psychoanalytischer Perspektive ist das Leben selbst ein Kontrollverlust, der in den Grundaffekten Angst und Scham zum Vorschein kommt – und Angst kann mittels Hass auf Fremde, Scham mittels Verachtung von Schwachen abgewehrt werden. Um den Autoritarismus zu verstehen, müssten wir selbst psychoanalytisch werden. Das heisst nicht, dass sich alle «auf die Couch legen» müssen, sondern dass wir gründlicher nachdenken sollten über das, was sich in Phänomenen wie Fremdenfeindlichkeit, Verachtung Schwacher, Antiintellektualismus, Kritikfeindlichkeit, imaginärer Überzeichnung der Frau oder eben «Abschottung» zeigt.

Newsletter der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), Sektion Basel, vom 26.01.2020

Zitate zur «Abschottung» aus Freiheit und Krisis:

«Selbstbestimmung» verkehrt sich zur Selbstzurücknahme aus einer bedrohlichen Welt (zur «Abschottung»): einer Welt, die als Projektionsfläche für die Ananke fungiert und damit noch bedrohlicher erscheint, als sie ohnehin ist. Gefangenschaft im Angst-Hybris-Zirkel gibt sich als «Selbstbestimmung».

Freiheit und Krisis, S. 344

Das Zurückschrecken vor dem Kontrollverlust der psychischen Öffnung und Ich-Fragmentierung beeinflusst auch die internationale Politik und das Völkerrecht. Entsprechend seinem Nein zur psychischen Entgrenzung und Fragmentierung sind für den autoritären Charakter nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch offene Grenzen und die Abhängigkeit von Anderen Reflex eines ontologischen Grauens. Angst wird an offenen Grenzen dingfest gemacht. In diesem Sinne sind Abschottung und Alleingang unter Begriffen wie «Souveränität» oder «Selbstbestimmung» für die autoritäre Persönlichkeit ein nicht verhandelbarer Wert an sich.

Freiheit und Krisis, S. 451

Anerkennung der Verletzbarkeit – das erste Gebot der Ethik der Psychoanalyse – ist Grundlage der Offenheit sowohl des Menschen als auch von Institutionen und Systemen. Den «Entvulnerabilisierungsprozess» (Butler) und die «Versteifung auf die je erreichte Existenz» (Heidegger) bestimmt Kohl als eine Verbarrikadierung in einem geschlossenen System. In der Politik ist hinsichtlich dieser Verschliessung auch von «Abschottung» die Rede. Im Sinne des widerspruchstheoretischen Neins zur Verbarrikadierung – des Neins zu einer wahnhaften Identität, Souveränität und Selbstbestimmung – entspricht die Transnationalisierung (Entgrenzung) des Rechts dem irreduziblen Sinn des Rechts.

Freiheit und Krisis, S. 467

Es gibt nur ein Aussen und ein Sich-Zumachen vor dem Aussen und – wie Wittgenstein sagt – vor der Kälte dort draussen, wo sich alle Fragen in nichts auflösen, weil man die Antwort selber ist. Dass die Freiheit sozusagen beim Anderen liegt und eine Öffnung für den Anderen verlangt – also das Gegenteil von Abschottung –, ist vielleicht die ultimative narzisstische Kränkung in einer ganzen Kaskade narzisstischer Kränkungen der Phylogenese (der Menschheitsgeschichte).

Freiheit und Krisis, S. 492

Heinrich Heine brachte die Abschottung und Wittgensteins Abnehmen der Welt wie folgt auf den Punkt: «Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht Weltbürger, nicht Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.»

Freiheit und Krisis, S. 493

«Seinsentlastung» oder «Flucht vor Freiheit» gelingt über eine Bewegung des Verschliessens, über Abschottung vor dem Begegnenden. «Abschottung» ist – auch in der Politik – eine Flucht vor dem In-der-Welt-sein. «Undemokratische Systeme sind in erster Linie Systeme, die verschliessen, sich dieser Ankunft des Anderen verschliessen, Systeme der Homogenisierung und der vollständigen Berechenbarkeit», so der Philosoph Jacques Derrida in Politik und Freundschaft. «Schliesslich kann man über die Kritik der faschistischen, nationalistischen, totalitären Gewalt im Allgemeinen sagen, dass es Systeme sind, die das ‹Kommende› verschliessen und in der Präsentation des Präsentierbaren einschliessen.»

Freiheit und Krisis, S. 67 f.

Abschottung vor dem Nächsten und vor Fakten ist ein – situativ auch ‹lebensnotwendiger› – Selbstbetrug, der ideologisch zur Selbstbestimmung verkehrt und als Selbstbestimmung verklärt wird (Rationalisierung der Abwehr).

Freiheit und Krisis, S. 68

«Selbstschutz», verstanden als Schutz vor Vulnerabilität, als Schutz der Ich-Identität, geht einher mit einer Abschottung vor dem Begegnenden. «Selbstschutz» (recte: Ego-Schutz) braucht Abschottung. Wenn gesagt wird, der Mensch könne gar nicht anders, als Freiheit abzuwehren, darf dieses Nicht-Können nicht zur Ausrede werden dafür, Freiheit erst gar nicht zu wagen.

Freiheit und Krisis, S. 94

Das Subjekt der Universität

Vor lauter Fächern und Unterfächern geraten Grundlage, Sinn und Ziel der Bildung aus dem Blick: der freie, mündige Mensch. Der Überblick verschwindet hinter Fächergrenzen und aufgetürmtem Wissen, das sich gern vorträgt und vortragen hört. Übrig bleibt die Frage: Bildung – wozu? Übrig bleibt inhaltsleerer, funktionalisierbarer Formalismus, für den das Erkennen kein Wert an sich ist. Übrig bleibt der Aufkläricht (Lessing). Übrig bleibt «die kulturwissenschaftliche Linke» (Michael Hampe), das Subjekt der Universität (Jacques Lacan). Übrig bleibt Rudolf Strahm.

Übrig bleibt der Maschinenmensch, der ungebildete Mensch, der manipulierbare Mensch, das Exemplar, das Opfertier und sein Bild von sich: Das Opfer von Verhältnissen, das Opfer von Triebregungen, das Opfer der geschichtlichen Situation, das Opfer der Erziehung – «Rassismus ist nur anerzogen!», schreit das Subjekt der Universität –, das Opfer von Gehirnströmen, das Opfer von Hormonen und Mormonen (und von verführerischen Sekten und Politsekten überhaupt), das Opfer von Kindheitstraumata und -reminiszenzen, das Opfer der Evolution, das Opfer der Sozialisation, das Opfer der Norm und Struktur (oder des Patriarchats), das Opfer des Kapitalismus, das Opfer invasiver Signifikanten, der Sprache, die angeblich entfremdet, das Opfer kognitiver Schwäche – kurz: der unfreie Mensch.

Solche Ideologien der Fremdbestimmung häufen sich auch innerhalb einzelner Disziplinen – die Psychoanalyse nicht ausgenommen. Der Psychiater Irvin D. Yalom zählt diese Opferideologien (Menschenbilder, «Modelle») innerhalb der Psychologie auf: «Die existenzielle therapeutische Position [lies: eine existenzial-psychoanalytische Herangehensweise] legt dar, dass das, was es uns so schwer macht [lies: woran wir leiden], nicht nur unserem biologisch-genetischen Substrat (ein psychopharmazeutisches Modell) entspringt, nicht nur unserem Kampf mit unterdrückten instinktiven Trieben (ein freudscher Standpunkt), nicht nur an wichtigen, von uns verinnerlichten Erwachsenen hängt, die vielleicht nicht mitfühlend, nicht liebevoll oder neurotisch waren (eine objektbezogene Position), dass es nicht nur gestörte Denkformen (eine Position der kognitiven Therapie) sind, nicht nur Scherben vergessener traumatischer Erinnerungen oder aktuelle Lebenskrisen […], sondern dass es auch – die Konfrontation mit unserer Existenz ist.» (Irvin D. Yalom, In die Sonne schauen, München 2008, S. 192 f.)

Aus welchem Grund der Mensch seinen Verstand auch gern ohne äusseren Anlass opfert und sich sozusagen «ohne Not» um Mündigkeit drückt, taucht in den medialen und wissenschaftlichen Konfliktanalysen als Frage nicht einmal auf. Freiheit? Den Menschen als Freien ansprechen? Ihm Freiheit zuzumuten, zumal Freiheit eine Zumutung ist? Darüber, und wie das Weltöffnende mit dem Weltstürzenden zusammenhängt, fehlt jede Reflexion. Und so steht der universitäre Opferdiskurs rat- und machtlos vor dem Umstand, dass Menschen sich gern als Opfer einer beschworenen Überfremdung begreifen oder als Opfer – ausgerechnet! – der Schwächsten: als hysterische Opfertiere, die andere opfern müssen, um den Abgrund der ‘eigenen’ Freiheit loszuwerden – einen Abgrund, den sie zwar noch an sich spüren, aber nicht reflektieren.

Wozu auch? Dieses Etwas lässt sich nicht messen, und was man nicht messen kann, gibt es nicht – räsoniert der Soziologe, der nach Theweleit auch noch stolz darauf ist, von Psychoanalyse keine Ahnung zu haben. Fremde und Schwache haben etwas mit dem Absoluten zu tun, das die Freiheit ist, und dieses Absolute ist keine Wohlfühloase. Das Absolute erscheint mit dem Fremden. Die ganze abendländische Mythologie und Transzendenzreflexion weiss das – so, wie man so etwas überhaupt wissen kann. Doch die Metaphysik (verstanden als Nachdenken über das Inkommensurable, Absolute) ist abgeschafft. Fragt sich nur, ob zu unserem Glück.

Das Subjekt der Universität ist der letzte Mensch. Es identifiziert den Diskurs der Rechten als Beschwörung, aber seine eigene Hysterie sieht dieses Subjekt nicht. Nicht in den Blick geraten seine «Geistfeindschaft» (Adorno), seine Ideologien der Fremdbestimmung, seine Privationstheorien, die sich türmen und wie Betonmauern jede Sicht verstellen, dafür aber eine imaginäre Sicherheit bieten. (Aufgrund dieses Täuschungscharakters gilt die Universität unter psychoanalytischen Gesellschaftstheoretiker_Innen als Idealtypus der Zwangsneurose.) Das unfreie Subjekt ist das Produkt der Universität. Streng genommen kann man es gar nicht ansprechen (und deshalb haben Linke und Liberale ein Rekrutierungsproblem), denn ansprechbar ist nur der freie Mensch, oder besser: der freie Teil in uns, der sich öffnet und damit seine Verletzlichkeit hinnimmt.

Vulnerabilität und Sterblichkeitssalienz sind die Kehrseite der Öffnung und des Vertrauens. Dieser Zusammenhang muss zur Sprache kommen in einer Gesellschaft, die emanzipativ werden will. Davon sind wir weit entfernt: «Wir sind [noch] nie modern gewesen» (Bruno Latour): Der «zweite Akt der Aufklärung» (Ernst Bloch) steht noch aus.

Die freie Gesellschaft wird daran zu erkennen sein, dass Ethik und Analyse koinzidieren (Theorie): Unrecht ist in erkenntniskritischer Hinsicht eine Selbsttäuschung (Adorno). Vielleicht wird Freiheit in einer solchen kommenden, konkret-utopischen Gesellschaft lebbar. Gelebte, hervorgebrachte Freiheit (Metanoia) ist eine Koinzidenz von Sein und Sollen in der (und durch die) Tat (Praxis). Auf diese Weise hängen Psychoanalyse (Theorie) und Marxismus (Praxis) zusammen (und Praxis ohne Theorie ist blind). Beide – Psychoanalyse wie Marxismus – bedeuten den Untergang für den autoritären Charakter (Paul Tillich), der die abgründige Freiheit stellvertretend in Fremden und Schwachen hasst.

Die freie Gesellschaft wird daran zu erkennen sein, dass die Universität theoretisch geworden ist und sich ihrer ideologischen, privationstheoretischen Menschenbilder entledigt hat.

(aktualisiert am 16.12.2019)…

Freiheit und Krisis. Wir brauchen ein radikales Umdenken – auch in der Rechtstheorie!

Autor/Autorin: Matthias Bertschinger
Beitragsart: Essay
Rechtsgebiete: Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie
Ursprünglich erschienen/Zitiervorschlag: Matthias Bertschinger, Freiheit und Krisis, in: Jusletter 28. Oktober 2019

 

Basierend auf einem Freiheitsbegriff, der das Traumatische nicht ausschliesst, lässt sich der Rechtssinn positiv als Begegnung und negativ (widerspruchstheoretisch) als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen stellvertretend in Anderen fassen – als Nein zu Rassismus und Menschenfeindlichkeit.

Le sens du droit, s’il se base sur un concept de liberté qui n’exclut pas son aspect traumatique, peut être compris, positivement, comme une rencontre et, négativement, comme un refus que le traumatisme soit représenté par un tiers, voire, comme un refus du racisme et de la haine de l’autre.

 

[1] Weltweit erstarken nationalistische, autoritäre, reaktionäre, faschistoide, chauvinistische und anti-aufklärerische Bewegungen, die sich alle durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auszeichnen. Nicht oder kaum zur Sprache kommt in den herrschenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konfliktanalysen der psychoanalytische Sinn (die psychoanalytische Dimension) gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder gesellschaftlicher Ausschluss-Diskurse. Vorherrschend sind funktionalistische, soziologistische, ökonomistische, biologistisch-naturalistische, szientistische oder triebtheoretische Erklärungsmodelle.

[2] In einer Synthese von Philosophie und Psychoanalyse werden Rassismus und Menschenfeindlichkeit hermeneutisch-anthropologisch, existenzial-psychoanalytisch – und das heisst: tiefer, tiefenpsychologisch – verstehbar: Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit (respektive Kritikfeindlichkeit), die idealtypisch für jeden Autoritarismus und Faschismus sind, erweisen sich existenzial-psychoanalytisch als Angst-, Scham- und Schuldabwehr.

 

Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit

[3] Fremde symbolisieren eine namenlose (ontologische) Bedrohung, die im Leben selbst liegt, und Schwache ein namenloses Untergehen oder Scheitern, welches wir selber sind. Die Abwehr dieses Traumatischen, Namenlosen, Absoluten stellvertretend in Fremden und Schwachen ist in ethischer Hinsicht die Menschenfeindlichkeit respektive Gleichgültigkeit und in epistemologischer, erkenntniskritischer Hinsicht eine Selbsttäuschung (THEODOR W. ADORNO). Das bis heute noch kaum richtig Durchdachte sei, wie die Abwehr des Traumatischen mit Moral und Ethik – dem metaphysischen «Du sollst» – zusammenhängt, so ADORNO vor 50 Jahren in seiner Metaphysik-Vorlesung. Um Rassismus zu verstehen, müssen wir schonungsloser werden im Denken. Eine von SIGMUND FREUD emanzipierte, moderne, existenzial verfahrende Psychoanalyse betreibt ein solches «Denken ohne Geländer» (HANNA ARENDT), erkennt es aber auch als ein Denken, das bereits in der ganzen Denkgeschichte anzutreffen oder angelegt ist: Es gibt etliche Psychoanalytiker avant la lettre (ROBERT HEIM) – zu denken ist an SCHLEIERMACHER, SCHELLING, SCHOPENHAUER, KIERKEGAARD, NIETZSCHE, HEIDEGGER, aber auch an KANT.

[4] Eine Subjekt- und Erkenntniskritik, die – wie beispielsweise bei ADORNO – auf hermeneutisch-anthropologische, existenzial-psychoanalytische Weise auf den Aspekt der Selbsttäuschung hinter Unrecht oder Gleichgültigkeit aufmerksam macht (Koinzidenz von Ethik und Analyse), und die folglich sowohl die Moral («Begegne!», «Exponiere Dich!», «Zeige Dich verletzlich!») als auch die intellektuelle Redlichkeit («Sei kritisch!», «Belüge Dich nicht selbst!») hochhält – eine solche Haltung oder Offenheit des Geistes und der Psyche (Koinzidenz von Sein und Sollen), die aussetzt und die man sich hauptsächlich selber schuldig ist, kann stellvertretend in Intellektuellen abgewehrt werden (Widerstand, Schuldabwehr), die sich mit ihrer politischen Korrektheit gegen Rassismus, Unrecht und Menschenfeindlichkeit und gegen den damit verbundenen Selbstbetrug – sprich: gegen die Nicht-Selbstwahl – stellen. Intellektuelle symbolisieren den Ruf des Gewissens (Schuldaffekt, Schuldbewusstsein), und dieser Ruf kommt nicht von im Über-Ich internalisierten Autoritäten her, sondern von der Freiheit. Selbst FREUD kannte dieses andere, zweite oder «wahre» Gewissen und sprach von einer leisen Stimme des Intellekts. Intellektuelle und Empathiefähige (besser: Empathiewillige) stehen für (oder erinnern an) den Ruf dieses anderen Gewissens, der zu Exposition und Begegnung anhält. Autoritarismus ist eine Verschliessung der Psyche, ein Symptom für fehlenden Mut zu Öffnung und Verletzlichkeit. Verletzlichkeit ist die Kehrseite der Offenheit (Freiheit), und Offenheit, Vertrauen, Begegnung, Exposition und Konfrontation sind Grundlage aller sozialen Systeme und Subsysteme – auch des Rechtssystems.

[5] Der existenzial unabweisliche Ruf des Gewissens kommt von der Freiheit her, und «Freiheit und Transzendenz des Daseins sind identisch!» (MARTIN HEIDEGGER). ERNST BLOCH spricht hinsichtlich einer so verstandener Transzendenz oder Freiheit von einem «Transzendieren ohne Transzendenz», einem «Exodus aus dem Statischen». Freiheit hat neben dem faszinierenden einen erschreckenden Aspekt, sie ist fascinosum und tremendum (RUDOLF OTTO). Zudem weist sie zwei Hypostasen auf: das bereits erwähnte namenlose Untergehen (Kenosis – aber auch Ekstasis) und die ebenfalls bereits erwähnte namenlose Bedrohung (Ananke – aber auch Pleroma). Die Ananke spielt auch in FREUDS klassischer Psychoanalyse eine wichtige Rolle – allerdings als eine auf das «Realitätsprinzip» reduzierte, verkürzte, naturalistisch ontifizierte (verdinglichte) Ananke (ein existenzial-psychoanalytisches Strukturmodell der Psyche ist abrufbar unter https://www.freiheitundkrisis.ch/strukturmodell.pdf). Der Kulturtheoretiker KLAUS THEWELEIT, der zu Recht ein Fehlen des psychoanalytischen Denkens in den Wissenschaften beklagt, spricht hinsichtlich der Ananke von «Körperverschlingung» und hinsichtlich der Kenosis von «Körperauflösung». Wir sind traumatisch verfasst (PETER WIDMER) und – «ob bewusst oder unbewusst» (RUDOLF BULTMANN) – ständig auf unsere traumatische Verfassung bezogen (ein Transzendenz- respektive Freiheitsbezug).

 

Abwehr eines Seins, eines Tuns und eines Wissens

[6] Fremdenfeindlichkeit respektive Angstabwehr richten sich ihrem verschlüsselten Sinn nach gegen die Ananke (das Kastrierende, Verschlingende, JACQUES LACANS «Reale»), die Schwachenfeindlichkeit respektive Schamabwehr gegen die Kenosis (die Kastration, JEAN-PAUL SARTRES und LACANS «Mangel-an-Sein») und die Kritikfeindlichkeit respektive Schuldabwehr (psychoanalytisch: «Widerstand») gegen die Metanoia (Umkehr, Selbstwahl). Abgewehrt werden die drei Grundaffekte oder Grundbefindlichkeiten Angst, Scham und Schuld. Alles in allem wird der Tod in concreto abgewehrt: das gelebte «Sein zum Tode» (HEIDEGGER), der «inständige Tod» (HANS KUNZ), der tremendum-Aspekt der Transzendenz, SARTRES «Nichts», die Krisis oder – psychiatrisch-psychoanalytisch gesprochen – die präpsychotische Dekompensation (eine ontologische, mit der menschlichen Existenz gegebene Verzweiflung, das gegenwärtige «Urtrauma»). Zusammen mit ihrem tremendum-Aspekt wird die Freiheit als ganze abgewehrt – also auch ihr fascinosum-Aspekt (das Staunen, das Mystische, das Ekstatisch-Pleromatische, welches auf Objekte wie die Heimat projiziert wird). Das Abgewehrte, «Tiefenpsychische» ist das «In-der-Welt-sein» (HEIDEGGER): eine gelebte, präreflexive, präintentionale und vor-prädikative Unverfügbarkeits- und Sterblichkeitssalienz (kein abstraktes Wissen).

[7] Angst- und Schamabwehr, ideologische Hass- und Selbsthass-Abwehr (ideologische Verschleierung der Angst- und Schamabwehr durch IMMANUEL KANTS «Vernünfteln») sowie die Schuldabwehr (Widerstand gegen den Ruf zu Freiheit, Verantwortung und eigener Urheberschaft) erweisen sich als drei übereinander gelagerte Grade des psychoanalytischen «Agierens» (des Inszenierens psychischer Brüche und Konflikte in der Welt und stellvertretend in Anderen). In Entsprechung zu diesen drei Graden des Inszenierens lassen sich – daseinsanalytisch, ausgehend von einer Analyse gelebter Lebens- und Konfliktvollzüge …

Wir brauchen drei neue kategorische Imperative

«Die kompakte Zusammenfassung, die Du hier öffentlich gemacht hast, weist auf einen Durchbruch hin.» A.-K. H. am 04.01.2018

Faschistische und autoritäre Bewegungen, Systeme und Demagogen liefern zu allen Zeiten Lichtgestalten (eigene Nation, Ethnie, Rasse, Religion, Kultur) und Hassobjekte (Juden, Muslime, Ausländer, Flüchtlinge: fremde Ethnien, Nationen, Religionen, Kulturen). Beides hängt zusammen, deshalb ist auch Heimattümelei nicht nur etwas Harmloses: Ohne den Juden hätte es die Lichtgestalt des nordischen Germanen nicht gegeben (Victor Klemperer).

Ein Blick in die medialen Kommentarspalten genügt um zu erkennen, wie tief das Bedürfnis nach Hass sitzt und wie leicht es die Aufhetzer haben. Am Ende steht regelmässig der Völkermord. Charakteristisch für jeden Autoritarismus ist der Hass auf Fremde, die Verachtung Schwacher und eine feindliche Haltung gegen Intellektuelle. Weshalb wird Autoritarismus von unten gestützt?

Keine Ideologiekritik ohne Sinnkritik: Ideologie bezweckt, nicht mehr bemerken zu müssen, inwiefern das Abgründige, ‘Dunkle’ in Fremden und Fremdgesetzten nur phantasiert und inszeniert wird, um es nicht mehr am (eigenen) Sein wahrnehmen zu müssen. Fremden und Randständigen, welche die Bedrohung respektive das Untergehen des eigenen Daseins symbolisieren, werden Kriminalität respektive parasitäre Faulheit unterstellt. Der Hass auf Fremde und die Verachtung Schwacher werden auf diese Weise rationalisiert und legitimiert. Carl Schmitt, der «Kronjurist des Dritten Reiches», hatte solche Rationalisierungen nicht mehr nötig. Schmitt erklärte den Hass kurzerhand zur Eigentlichkeit.

Freiheit wird viel zu harmlos vorgestellt. Freiheit und Krisis sind identisch. Aus der Teilnehmerperspektive ist die Freiheit das Nächste, aus der Beobachterperspektive ist sie das Fernste. Sie ist der Horizont der Teilnehmerperspektive, des «Ich-Du-Verhältnisses» (Martin Buber). In einer existenzialen Analyse des Films The Hitch-Hiker interpretiert der ungarische Schriftsteller László F. Földényi das Beten als illusionsloses Durchleben des eigenen, existenziellen Ausgeliefertseins. Einer der beiden Männer, von denen der Film erzählt, befindet sich im Zustand vollständiger Verlassenheit, der zugleich ein Zustand vollständiger Offenheit ist. In diesem Zustand «tut sich das Nichts – beziehungsweise das nackte Sein – vor ihm auf». «Das ist der Zustand der Freiheit», so Földényi.

Dieser Zustand oder Existenzmodus der Freiheit (alternativ und im emphatischen Sinn: Glaube, Liebe, Offenheit, Ich-Fragmentierung, Unbewusstes, transcendens usw. – das Signifikat entgleitet!) ist der Sinn des Rechts. Moralisches Unrecht ist sinnkriterial eine Flucht vor Freiheit – und Recht bleibt gemäss Kant an die Moral gebunden, damit man es auch aus Freiheit (Kant: «aus Pflicht», nicht nur pflichtgemäss) befolgen kann: Aus dem Namenlosen, welches sich als Triebfeder selbst genügt.

Die namenlose, abgründige Freiheit oder Freiheit wird stellvertretend in ‘Objekten’ abgewehrt: Die Unverfügbarkeit der Welt, die ‘uns zum Grab’ wird, wird stellvertretend in Fremden gehasst (Angstabwehr). Die Unverfügbarkeit der eigenen Existenz, unser «Ausgeliefertsein» (Földényi) und Untergehen, wird stellvertretend in Schwachen verachtet (Schamabwehr). Stellvertretend in Intellektuellen wird schliesslich das Bewusstsein abgewehrt, dass man Freiheit und Verantwortung nicht wählt (Schuldabwehr). Fremde, Schwache und Intellektuelle – diese drei! – werden in jedem Faschismus verfolgt und vernichtet. Faschismus ist vorgespielte Stärke. In Wahrheit ist er zu schwach, sich den Grundaffekten Angst, Scham und Schuld zu stellen, die alle drei auf die Nichtwahl der Freiheit – und damit des Seienden im Ganzen und des Daseins, wie sie sind: in fundamentaler Hinsicht unverfügbar, transzendent – verweisen. Freiheit kommt objektbezogen in der Angst und subjektbezogen in der Scham zum Vorschein. Angst und Scham sind ein Zeiger auf die narzisstische Selbstüberhöhung.

Ideologische Sprachspiele verdecken, dass man überhaupt etwas abwehrt respektive verdrängt. Über alles betrachtet wird ein bestimmtes Sein (Freiheit, Grund und Abgrund), Tun (Abwehr dieses Abgrunds, das anthropologische Böse) und Wissen (Schuldbewusstsein) abgewehrt. Diese psychische Dimension von Konflikten, die sich nur einer existenzial-psychoanalytischen Herangehensweise erschliesst, ist in den gesellschaftlichen Konfliktanalysen nahezu athematisch – zum Schaden sowohl der Analyse als auch der gesellschaftlichen Emanzipation. Die Wissenschaft verdrängt.

Das Recht ist für die Schwachen da (Giusep Nay). Der Sinn des Rechts liegt in einem Erscheinenlassen des Begegnenden, Nächsten (oberste Norm: Verhältnismässigkeitsprinzip, Einzelfallgerechtigkeit) oder – negativ – in einem Nein zum ‘Verschwindenlassen’ des Nächsten hinter Kategorien des Bedrohlichen oder Verächtlichen, um in ihm einen Sündenbock zu gewinnen für jenes «nackte Sein» (Földényi), welches die Freiheit ist (oberste Norm: Diskriminierungsverbot, Verbot der Volksverhetzung).

Gleichheit ist von dieser summa lex – dem «Begegne!» oder «Sieh hin!» abgeleitet. Dieser Imperativ gilt auch und gerade hinsichtlich der Realität, nicht nur hinsichtlich des Mitmenschen. In der Begegnung und Konfrontation mit der Transzendenz der Realität erkennen sich Menschen als in fundamentaler Hinsicht gleich: Als gleich sterblich, verletzlich, ausgesetzt, frei. Freisein heisst Schwachsein (psychoanalytisch: «Kastration»). Daraus, dass er das Ausgesetztsein, welches er ist und als welches er sich (verdrängtermassen) erlebt, zu sein und zu erleben hat, bezieht der Mensch seine besondere Würde. Der Selbstmord wäre nur die Vorwegnahme der letzten Konsequenz desjenigen Seins, das man zu sein hat.

Die Gesellschaftskritik, die Rechtstheorie und die sogenannte «Kommunikation von Menschenrechten» (die Aktivisten) benötigen einen anderen respektive einen zusätzlichen, sinnkriterialen statt erkenntnistheoretischen Imperativ für ein tieferes Verständnis von Unrecht und Konflikten – einen Imperativ, der im Sinne Sartres, Heideggers und vieler anderer Autoren Ethik mit Analyse verbindet. Für diese Verbindung braucht es mehr als die soziologistische ‘Transdisziplinarität’ der real existierenden Konflikt- und Friedensforschung. Es braucht eine Synthese von Psychoanalyse und Sozialtheorie – dies ist ein altes, nicht erreichtes Ziel der Kritischen Theorie –, und für diese Synthese braucht es wiederum den Blick in die ganze Denktradition. Von einer solchen Renaissance des sinnkritischen Denkens sind wir weit entfernt. Bemerkbar macht sich im Gegenteil eine Tendenz, alles zu verneinen und zu verlachen, was nicht durch eine Studie unterlegt ist (Nanina Egli). Verbreitet ist eine fehlende Transzendenz- und Inkompetenz-Einsicht (Peter Strasser), Musils «höhere Dummheit».

Der erkenntnistheoretische Imperativ von Kant, der sein «radicales Böse» eingestandenermassen selber nicht verstand, lautet sinngemäss: «Behandle Andere so, wie Du selbst behandelt werden willst.» Dieser Imperativ hat letztlich nichts mit mir selbst zu tun als demjenigen, der ich augenblicklich bin. Wenn er mit mir zu tun hat, bin ich bereits der Andere des Imperativs, also räumlich und zeitlich versetzt: Ich könnte selbst in die Situation des ohnmächtigen Anderen geraten, der durch den Imperativ (das Recht) geschützt werden soll – zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort und als ein anderer.

In einer Verschiebung des