Freiheit und Krisis. Wir brauchen ein radikales Umdenken – auch in der Rechtstheorie!

Autor/Autorin: Matthias Bertschinger
Beitragsart: Essay
Rechtsgebiete: Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie
Ursprünglich erschienen/Zitiervorschlag: Matthias Bertschinger, Freiheit und Krisis, in: Jusletter 28. Oktober 2019

 

Basierend auf einem Freiheitsbegriff, der das Traumatische nicht ausschliesst, lässt sich der Rechtssinn positiv als Begegnung und negativ (widerspruchstheoretisch) als ein Nein zur Abwehr des Traumatischen stellvertretend in Anderen fassen – als Nein zu Rassismus und Menschenfeindlichkeit.

Le sens du droit, s’il se base sur un concept de liberté qui n’exclut pas son aspect traumatique, peut être compris, positivement, comme une rencontre et, négativement, comme un refus que le traumatisme soit représenté par un tiers, voire, comme un refus du racisme et de la haine de l’autre.

 

[1] Weltweit erstarken nationalistische, autoritäre, reaktionäre, faschistoide, chauvinistische und anti-aufklärerische Bewegungen, die sich alle durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auszeichnen. Nicht oder kaum zur Sprache kommt in den herrschenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konfliktanalysen der psychoanalytische Sinn (die psychoanalytische Dimension) gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder gesellschaftlicher Ausschluss-Diskurse. Vorherrschend sind funktionalistische, soziologistische, ökonomistische, biologistisch-naturalistische, szientistische oder triebtheoretische Erklärungsmodelle.

[2] In einer Synthese von Philosophie und Psychoanalyse werden Rassismus und Menschenfeindlichkeit hermeneutisch-anthropologisch, existenzial-psychoanalytisch – und das heisst: tiefer, tiefenpsychologisch – verstehbar: Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit (respektive Kritikfeindlichkeit), die idealtypisch für jeden Autoritarismus und Faschismus sind, erweisen sich existenzial-psychoanalytisch als Angst-, Scham- und Schuldabwehr.

 

Fremden-, Schwachen- und Intellektuellenfeindlichkeit

[3] Fremde symbolisieren eine namenlose (ontologische) Bedrohung, die im Leben selbst liegt, und Schwache ein namenloses Untergehen oder Scheitern, welches wir selber sind. Die Abwehr dieses Traumatischen, Namenlosen, Absoluten stellvertretend in Fremden und Schwachen ist in ethischer Hinsicht die Menschenfeindlichkeit respektive Gleichgültigkeit und in epistemologischer, erkenntniskritischer Hinsicht eine Selbsttäuschung (THEODOR W. ADORNO). Das bis heute noch kaum richtig Durchdachte sei, wie die Abwehr des Traumatischen mit Moral und Ethik – dem metaphysischen «Du sollst» – zusammenhängt, so ADORNO vor 50 Jahren in seiner Metaphysik-Vorlesung. Um Rassismus zu verstehen, müssen wir schonungsloser werden im Denken. Eine von SIGMUND FREUD emanzipierte, moderne, existenzial verfahrende Psychoanalyse betreibt ein solches «Denken ohne Geländer» (HANNA ARENDT), erkennt es aber auch als ein Denken, das bereits in der ganzen Denkgeschichte anzutreffen oder angelegt ist: Es gibt etliche Psychoanalytiker avant la lettre (ROBERT HEIM) – zu denken ist an SCHLEIERMACHER, SCHELLING, SCHOPENHAUER, KIERKEGAARD, NIETZSCHE, HEIDEGGER, aber auch an KANT.

[4] Eine Subjekt- und Erkenntniskritik, die – wie beispielsweise bei ADORNO – auf hermeneutisch-anthropologische, existenzial-psychoanalytische Weise auf den Aspekt der Selbsttäuschung hinter Unrecht oder Gleichgültigkeit aufmerksam macht (Koinzidenz von Ethik und Analyse), und die folglich sowohl die Moral («Begegne!», «Exponiere Dich!», «Zeige Dich verletzlich!») als auch die intellektuelle Redlichkeit («Sei kritisch!», «Belüge Dich nicht selbst!») hochhält – eine solche Haltung oder Offenheit des Geistes und der Psyche (Koinzidenz von Sein und Sollen), die aussetzt und die man sich hauptsächlich selber schuldig ist, kann stellvertretend in Intellektuellen abgewehrt werden (Widerstand, Schuldabwehr), die sich mit ihrer politischen Korrektheit gegen Rassismus, Unrecht und Menschenfeindlichkeit und gegen den damit verbundenen Selbstbetrug – sprich: gegen die Nicht-Selbstwahl – stellen. Intellektuelle symbolisieren den Ruf des Gewissens (Schuldaffekt, Schuldbewusstsein), und dieser Ruf kommt nicht von im Über-Ich internalisierten Autoritäten her, sondern von der Freiheit. Selbst FREUD kannte dieses andere, zweite oder «wahre» Gewissen und sprach von einer leisen Stimme des Intellekts. Intellektuelle und Empathiefähige (besser: Empathiewillige) stehen für (oder erinnern an) den Ruf dieses anderen Gewissens, der zu Exposition und Begegnung anhält. Autoritarismus ist eine Verschliessung der Psyche, ein Symptom für fehlenden Mut zu Öffnung und Verletzlichkeit. Verletzlichkeit ist die Kehrseite der Offenheit (Freiheit), und Offenheit, Vertrauen, Begegnung, Exposition und Konfrontation sind Grundlage aller sozialen Systeme und Subsysteme – auch des Rechtssystems.

[5] Der existenzial unabweisliche Ruf des Gewissens kommt von der Freiheit her, und «Freiheit und Transzendenz des Daseins sind identisch!» (MARTIN HEIDEGGER). ERNST BLOCH spricht hinsichtlich einer so verstandener Transzendenz oder Freiheit von einem «Transzendieren ohne Transzendenz», einem «Exodus aus dem Statischen». Freiheit hat neben dem faszinierenden einen erschreckenden Aspekt, sie ist fascinosum und tremendum (RUDOLF OTTO). Zudem weist sie zwei Hypostasen auf: das bereits erwähnte namenlose Untergehen (Kenosis – aber auch Ekstasis) und die ebenfalls bereits erwähnte namenlose Bedrohung (Ananke – aber auch Pleroma). Die Ananke spielt auch in FREUDS klassischer Psychoanalyse eine wichtige Rolle – allerdings als eine auf das «Realitätsprinzip» reduzierte, verkürzte, naturalistisch ontifizierte (verdinglichte) Ananke (ein existenzial-psychoanalytisches Strukturmodell der Psyche ist abrufbar unter https://www.freiheitundkrisis.ch/strukturmodell.pdf). Der Kulturtheoretiker KLAUS THEWELEIT, der zu Recht ein Fehlen des psychoanalytischen Denkens in den Wissenschaften beklagt, spricht hinsichtlich der Ananke von «Körperverschlingung» und hinsichtlich der Kenosis von «Körperauflösung». Wir sind traumatisch verfasst (PETER WIDMER) und – «ob bewusst oder unbewusst» (RUDOLF BULTMANN) – ständig auf unsere traumatische Verfassung bezogen (ein Transzendenz- respektive Freiheitsbezug).

 

Abwehr eines Seins, eines Tuns und eines Wissens

[6] Fremdenfeindlichkeit respektive Angstabwehr richten sich ihrem verschlüsselten Sinn nach gegen die Ananke (das Kastrierende, Verschlingende, JACQUES LACANS «Reale»), die Schwachenfeindlichkeit respektive Schamabwehr gegen die Kenosis (die Kastration, JEAN-PAUL SARTRES und LACANS «Mangel-an-Sein») und die Kritikfeindlichkeit respektive Schuldabwehr (psychoanalytisch: «Widerstand») gegen die Metanoia (Umkehr, Selbstwahl). Abgewehrt werden die drei Grundaffekte oder Grundbefindlichkeiten Angst, Scham und Schuld. Alles in allem wird der Tod in concreto abgewehrt: das gelebte «Sein zum Tode» (HEIDEGGER), der «inständige Tod» (HANS KUNZ), der tremendum-Aspekt der Transzendenz, SARTRES «Nichts», die Krisis oder – psychiatrisch-psychoanalytisch gesprochen – die präpsychotische Dekompensation (eine ontologische, mit der menschlichen Existenz gegebene Verzweiflung, das gegenwärtige «Urtrauma»). Zusammen mit ihrem tremendum-Aspekt wird die Freiheit als ganze abgewehrt – also auch ihr fascinosum-Aspekt (das Staunen, das Mystische, das Ekstatisch-Pleromatische, welches auf Objekte wie die Heimat projiziert wird). Das Abgewehrte, «Tiefenpsychische» ist das «In-der-Welt-sein» (HEIDEGGER): eine gelebte, präreflexive, präintentionale und vor-prädikative Unverfügbarkeits- und Sterblichkeitssalienz (kein abstraktes Wissen).

[7] Angst- und Schamabwehr, ideologische Hass- und Selbsthass-Abwehr (ideologische Verschleierung der Angst- und Schamabwehr durch IMMANUEL KANTS «Vernünfteln») sowie die Schuldabwehr (Widerstand gegen den Ruf zu Freiheit, Verantwortung und eigener Urheberschaft) erweisen sich als drei übereinander gelagerte Grade des psychoanalytischen «Agierens» (des Inszenierens psychischer Brüche und Konflikte in der Welt und stellvertretend in Anderen). In Entsprechung zu diesen drei Graden des Inszenierens lassen sich – daseinsanalytisch, ausgehend von einer Analyse gelebter Lebens- und Konfliktvollzüge – drei moralische Imperative formulieren:

 

Drei moralische Imperative

[8] Die drei Imperative zeichnet eine Umkehr des Begründungsansatzes aus: vom Anderen (dem Opfer) auf das Subjekt (den Täter). Psychoanalytisch betrachtet liegt Strafe in der verwerflichen, kriminellen, «kaltherzigen» (BLOCH: «Kältestrom»), neurotisch-gleichgültigen oder aber psychotisch-rauschartigen (BLOCH: «Wärmestrom») Tat selbst: Welt nimmt dann «sozusagen als Ganzes» ab, wie LUDWIG WITTGENSTEIN formuliert. Strafe liegt – psychoanalytisch, existenzial-ontologisch, hermeneutisch-anthropologisch betrachtet – in einem Sich-Verschliessen vor dem Begegnenden oder «Seienden» (im Gegensatz zum «Sein»). Seele und Geist «machen zu», wie es umgangssprachlich heisst. Die Psyche ist, so könnte man sagen, etwas, das ständig auf- und zumacht, wobei Öffnung Grundlage der psychisch-geistigen Verschliessung ist. «Unter» der Verschliessung ereignet immer die Öffnung, die ein abgründiger Grund, die Krisis ist. Misstrauen (Verschliessung) basiert auf Vertrauen (Offenheit), und ideologische Verkehrungen basieren auf dem offenlegenden Logos (der Freiheit). In der Verschliessung und Begegnungsunfähigkeit erkannte schon MARCUS TULLIUS CICERO die Strafe, die den Täter im Augenblick der Tat – hoc ipso – trifft, und bezeichnete sie als die höchste Strafe.

[9] Hinsichtlich dieser Verschliessung – des anthropologischen «radicalen Bösen» (KANT), des im Menschen lebenden Bedürfnisses zu hassen und zu vernichten (ALBERT EINSTEIN), FREUDS «Todestrieb», UMBERTO ECOS «Urfaschismus» und der imaginären Feindbildproduktion – lautet der Imperativ:

[10] «Wehre die abgründige Freiheit, die Du selber bist, aber nicht hervorzubringen wagst, nicht auf imaginäre Weise stellvertretend in Mitmenschen ab!» Dieser Imperativ verbietet die Abwehr eines Seins (zum Tode) stellvertretend in Fremden und Schwachen – eines Seins, das entsprechend der Subjekt-Objekt-Spaltung gespalten in den «reinen» (auf ein Absolutes verweisenden) Affekten Angst (objektivisch) und Scham (subjektivisch) zum Vorschein kommt.

[11] Hinsichtlich ideologischer Sprachspiele, die die Fremden- und Schwachenfeindlichkeit als vernünftig rationalisieren – etwa, weil Bedürftige faul, asozial, parasitär oder Fremde kriminell (böse) seien –, und die KANT als «Vernünfteln» bezeichnet, lautet der Imperativ: «Täusche Dich nicht mit ideologischen Ausreden darüber, dass Du stellvertretend in Fremden etwas Abgründiges hasst und stellvertretend in Schwachen etwas Abgründiges verachtest, das Deinem eigenen Sein anhaftet!» Dieser Imperativ verbietet die Abwehr eines eigenen Tuns stellvertretend in Anderen (die ideologische Verkehrung eines eigenen «bösen» Tuns in ein «Böses» des Anderen).

[12] Hinsichtlich der emanzipativen, auch und gerade feministischen, Rassismuskritik übenden Intellektuellen oder Menschenrechtsaktivisten – der sogenannten «Gutmenschen», die ihre Stimme gegen Amoral und Hass erheben, und denen pauschal unterstellt wird, sie würden mit ihrer politischen Korrektheit die Meinung anderer (deren Stimme) unterdrücken und in arroganter, totalitärer und «sprachpolizeilicher» Weise Sprechverbote erteilen – könnte der Imperativ lauten: «Wehre nicht stellvertretend in Intellektuellen, die ihre Stimme gegen Hass und Ausschluss erheben, das Wissen ab, dass Du Deine eigene, unverfälschte Stimme nicht erhebst!» Dieser Imperativ verbietet die Abwehr eines Wissens (Gewissens) stellvertretend in «Eliten», die keine Sprechverbote aussprechen, sondern «Geniessverbote», wie der Psychoanalytiker FABIAN LUDWIG treffend bemerkt – übersetzt: Hassverbote.

 

Der Rechtssinn aus existenzial-psychoanalytischer Perspektive

[13] Ausgehend von einer existenzial-psychoanalytischen Konfliktanalyse, wie sie soeben grob skizziert wurde, lässt sich der transethische, hermeneutisch-anthropologisch fundierte Sinn des Rechts bestimmen. Positiv formuliert ist das höchste Gesetz (die summa lex) das Gebot der «Übernahme» der Teilnehmerperspektive des Anderen (Empathie, Mitgefühl, Offenheit, Begegnen- und Seinlassen des Anderen): «Du sollst den Nächsten in seinem Erleben und Erleiden begegnen lassen!» oder «Du sollst den Anderen in seiner radikalen Andersheit, Eigenständigkeit, Entzogenheit und Unantastbarkeit erkennen, anerkennen und seinlassen!» (Inzestverbot, IRINA BREŽNÁS Recht auf Fremdheit). In dieser positiven Hinsicht (Gebot) des «Siehe hin!» oder «Höre hin!» oder «Begegne unvoreingenommen!» (richterliche Unabhängigkeit) findet die moralische summa lex ihren höchsten Ausdruck im Verhältnismässigkeitsprinzip (Einzelfallgerechtigkeit) – aber auch in Rechtsprinzipien wie dem Anspruch auf das rechtliche Gehör oder im Individualisierungsprinzip der Sozialhilfe. Das Wegsehen vom Individuum und seinem unverwechselbaren Anspruch (moralisches Unrecht) darf nicht formaljuristisch mit Gleichheit und Gleichbehandlung rationalisiert werden.

[14] Die Meinungsäusserungsfreiheit erweist sich existenzial als ein ins positive Recht heruntergebrochenes Ja zur eigenen Urheberschaft, zur Metanoia (Umkehr) oder zum psychoanalytischen «Vatermord» (Mord am Über-Ich): «Erhebe Deine eigene, unverwechselbare Stimme!» Das Recht will den freien Menschen, der seine eigene, nicht bloss ausgeliehene Stimme erhebt. Der freie, offenständige, «wahnfreie» (KARL LÖWITH) Mensch ist der Glaube, das Bekenntnis, der Grund und das Ziel des Rechts. (Hierin liegt, nebenbei bemerkt, auch der existenzial-psychoanalytische Sinn der Invokation der Verfassung: Transzendenz und Freiheit sind identisch! Die Verfassung «spricht» ihrem authentischen Sinn nach im Namen der Freiheit.) Die Meinungsäusserungsfreiheit steht in direktem Widerspruch zu Verhetzung, Rassismus und so verstandener «Meinung»: Hate Speech (Hassrede) und Rassismus schliessen Menschen aus der Diskursgemeinschaft (der Meinungsäusserungs-Gemeinschaft) aus und machen Angehörige von Minderheiten mundtot. Stimmenraub begehen gerade nicht diejenigen, die Hate Speech zurückweisen – und jeder Völkermord beginnt mit Hasspropaganda (MILO RAU): damit, dass Menschen zum Verstummen gebracht und unsichtbar gemacht werden (CAROLIN EMCKE).

[15] Negativ (als Verneinung, PETER NOLL: als Un-Ungerechtigkeit) und widerspruchstheoretisch (von den Pathologien der Vernunft her betrachtet) ist die summa lex ein Verbot: ein Nein zum «Verschwindenlassen» von inkommensurablen, unverwechselbaren Individuen hinter Kategorien des Bedrohlichen oder Verächtlichen, um in ihnen eine Projektionsfläche für den tremendum-Aspekt der Freiheit zu gewinnen. Abwehr der Freiheit stellvertretend in Anderen (MELANIE KLEINS projektive Identifizierung) führt auch zu rechtstatsächlicher Diskriminierung (STEPHAN BERNARD), zu moralischem Unrecht in Rechtsform: Der Jurist DAVID MÜHLEMANN von humanrights.ch spricht treffend von einer Stigmatisierung des gesellschaftlich Bösen (Strafrecht), Fremden (Asyl- und Ausländerrecht) und Schwachen (Sozialhilferecht). Im Diskriminierungsverbot und im Verbot der Volksverhetzung spricht sich das psychoanalytische Tötungsverbot – das Nein zur wahnhaft-imaginären Vernichtung des Nichtseins (TERRY EAGLETON) respektive der Freiheit stellvertretend im Anderen – am umfassendsten aus. Der Mensch darf nicht auf einen Merkmalsträger (z. B. «Jude» oder «Muslim») und damit auf ein blosses Exemplar einer Sorte Mensch reduziert werden, um in ihm eine Projektionsfläche für den Abgrund der Freiheit zu gewinnen.

 

Die Psychoanalyse ist das eigene Denken der Jurisprudenz

[16] Autoritarismus kann man nur bekämpfen, wenn man ihn analytisch versteht. Von einem solchen Verstehen des Autoritarismus und der Menschenfeindlichkeit sind wir noch weit entfernt – weiter noch als vor 50 Jahren (HEIDEGGER, SARTRE, JASPERS, ADORNO, FROMM und viele andere Denker und Denkerinnen stehen für eine Blüte des existenzialen, hermeneutisch-anthropologischen Denkens). Verbreitet ist eine fehlende Transzendenz- und Inkompetenz-Einsicht (PETER SRASSER) – auch und gerade an den Universitäten. Das herrschende Menschenbild ist völlig schief: Der Mensch wird funktionalistisch reduziert und erscheint so, als ob er nur «ungern hasse oder nur aus Not töte» (ADOLF MUSCHG). Freiheit und Abwehr werden naturalistisch, ökonomistisch, marxistisch-soziologistisch, geschichtsdeterministisch, strukturalistisch, diskurs- oder triebtheoretisch, aber auch entwicklungspsychologisch ontifiziert (verdinglicht: zu etwas Seiendem gemacht) und damit negiert respektive verdrängt (Ideologien der Fremdbestimmung) – diese Kritik betrifft auch die klassische Freud’sche Psychoanalyse (und dort das Realitätsprinzip und die Hermeneutik des Triebwunschs, aber auch die Fixierung auf Kindheitstraumata). Selbst die Psychoanalyse wird von der Vulnerabilitätsabwehr besetzt (Abwehr mittels wissenschaftlicher, philosophischer oder psychoanalytischer Theoriebildung). In der Psychoanalyse bezeichnet man diesen Abwehrmechanismus als «Widerstand»: Man will von etwas Bestimmtem nichts wissen, weil dieses Bestimmte wehtut, nahegeht, traumatisch und «zu persönlich» ist.

[17] Das Erstarken von Autoritarismus und Rassismus bringt das «Recht dem Rechtsbegriff nach» (GUSTAV RADBRUCH) in Gefahr. Die gegenwärtigen Entwicklungen zwingen uns Juristinnen und Juristen, Tuchfühlung mit der Psychoanalyse aufzunehmen, denn die anthropologische, von Zeit (Geschichte) und Ort (Kultur) unabhängige Dimension von Autoritarismus und Menschenfeindlichkeit erschliesst sich nur einem existenzial-psychoanalytischen Denken. Angemerkt sei, dass es neben der Rechtssoziologie und der erkenntnistheoretischen, nicht-psychoanalytisch verfahrenden Rechtsphilosophie auch eine (lacanianische) psychoanalytische Rechtstheorie gibt: eine Schnittstellendisziplin, die im deutschsprachigen Raum noch nicht einmal ein Randdasein fristet. Dies liegt aber ganz in der Logik dessen, was die Psychoanalyse aufdecken will: Sie ergründet das Worüber apokalyptischer (enthüllender) Vernichtungsangst und ruft folglich «affektgeladene Ablehnung» (PAUL TILLICH) hervor. Freiheit ist keine Wohlfühloase.

[18] Wir Juristinnen und Juristen dürfen nicht darauf warten, dass Psychoanalytiker uns «Einsichten» liefern. Wir dürfen auch nicht auf die längst nötige Synthese von Psychoanalyse und Kritischer Theorie (MOSHE ZUCKERMANN) warten und auf eine veränderte, ihren Horizont sprengende Rechtssoziologie, die aus dieser Synthese hervorgehen würde. Psychoanalyse – verstanden als sinnkritisches, existenzial-ontologisches, daseinsanalytisches, phänomenologisch-hermeneutisches, auch sprachanalytisches, ideologie- und religionskritisches Denken – ist nicht mit Freud vom Himmel gefallen. Als ein rückhaltloses «Denken ohne Geländer» (ARENDT) ist die Psychoanalyse so alt wie die Philosophie. Sie ist ein «Selberdenken in Freiheit» (WILFRED BION) – also unser eigenes Denken. In diesem Sinne lässt sich sagen:

[19] Die Psychoanalyse ist das eigene Denken der Jurisprudenz.

 

Lic. iur. MATTHIAS BERTSCHINGER

Ende November 2019 erscheint beim Schwabe Verlag ein psychoanalytisch-rechtstheoretisches Grundlagenwerk des Autors mit dem Titel «Freiheit und Krisis. Psychoanalyse des Autoritarismus und psychoanalytische Rechtsanthropologie». «MATTHIAS BERTSCHINGER setzt im vorliegenden Werk da an, wo andere aufhören. Seine fundamentale Kritik am modernen Rechtsverständnis basiert auf der Überzeugung, dass in der modernen Rechtstheorie und ganz allgemein in der heutigen Soziokultur Grundlegendes von dem, was den Menschen letztlich ausmacht, verdrängt wird» (DANIEL HELL, ehem. ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich im Geleitwort).

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