Zweifel daran, ob man beim Schreiben noch ganz bei Trost war
«Eine Arbeit wird ‘fertig’: mehr durch den Beschluss, fertig sein zu müssen, aus finanziellen und anderen Gründen, als wirklich ‘zu Ende’ gedacht und geschrieben, aber man hört erst mal auf. Nur, raus bist du noch lange nicht…
Zitate mit dem Original vergleichen, Jahreszahlen nachprüfen, nachprüfen, ob so vieles, was man ‘aus dem Kopf’ geschrieben hat, wirklich mit den Autoren, auf die man sich beruft, zu tun hat (oft hat es nicht) – lückenhafte Anmerkungen auffüllen, Quellen für Zitate, die man nicht mehr findet, erfinden […]. Im Verlauf dessen liest man den eigenen Text so oft, bis man daran zweifelt, ob man beim Schreiben ganz bei Trost war.»
Klaus Theweleit
Wer Rassismus verstehen will – und wir sollten ihn im Interesse einer offenen Gesellschaft verstehen lernen! – kommt nicht an der Psychoanalyse vorbei.
In dieser Rubrik «Gedanken und Anmerkungen» werden Zitate aus dem Buch zu Zitaten anderer Autoren und Autorinnen in Beziehung gesetzt.
Ruf der Freiheit
Freiheit, verstanden als Wahnfreiheit (Karl Löwith), heisst: das Denken nicht gegen das Denken in Anschlag zu bringen. Freiheit ist keine Wohlfühloase, und ohne den Tod als Transzendenzaspekt (Freiheitsaspekt) zu begreifen, klärt sich nichts auf. Klar ist aber auch, wie sehr der Mensch sich selber unklar bleiben will (daran ist Kurt Tucholsky verzweifelt). Der Ruf der Freiheit kommt wider Erwarten und wider den Willen.
Metanoia und ‘kleine Metanoia’ des Denkens
«Wer sich nicht einfühlen kann, kann letztlich auch nicht richtig denken.»
Mario Erdheim über die «Empathiestörung». Bei dieser Art von Denkstörung schätzt man die Realität nicht richtig ein. Man sieht Gefahren in Situationen, in denen es keine gibt [i. e. Verfolgungswahn, Feindbildproduktion; Anm. von mir], und wenn es tatsächlich Gefahren gibt, erkennt man sie nicht [i. e. Faktenfreiheit, imaginär-psychotische Verzerrung der Realität; Anm. von mir]. Die Wahrnehmung der Realität wird durcheinandergebracht.»
Radikales Denken (‹kleine Metanoia›, ‹kleine Schwester der Metanoia›) ist Begleiterin der ebenso radikalen, rückhaltlosen Freiheit, der christlichen «Umkehr» (Metanoia), die jede Sicherheit raubt und als Vertrauensgrundlage doch neuen, wenn auch schwankenden Grund gibt. Metanoia (hervorgebrachte Freiheit) und klares Denken hängen zusammen.
Freiheit und Krisis, S. 85
Durch freies Denken fällt man noch nicht in den Abgrund der Freiheit. Diese Trennung zwischen existenzial und existenziell bleibt aber weitgehend theoretisch.
Freiheit und Krisis, S. 464
Wir brauchen eine existenzial-psychoanalytische Konfliktanalyse und Rassismuskritik
Die offene Gesellschaft bietet keinen ideologischen Schutz vor der psychischen Offenständigkeit, die eine Überforderung darstellt. Aus diesem Grund funktionieren Autoritarismus, Fundamentalismus und Faschismus. Doch von solchen Zusammenhängen ist in den medialen und ‘linken’ kulturwissenschaftlichen Konfliktanalysen kaum die Rede – zum Schaden sowohl der Analyse als auch der gesellschaftlichen Emanzipation.
«Die Metaphysik [existenzial-psychoanalytisches Denken] gehört zu den Grundlagen des Rechts.»
«Metaphysik ist nicht gerade in Mode – nicht erst seit der analytischen Philosophie und der Wiener Schule. Die Kritik der Metaphysik als unwissenschaftliche Spekulation war so wirkmächtig, dass heute kaum noch ein Jurist weiß, was Metaphysik ist oder sein könnte. […] Metaphysik gehört zu den Grundlagen des Rechts. […] Der mit dem Szientismus nicht selten einhergehende Materialismus ist für Horn nichts anderes als eine schlechte Metaphysik. Im Recht jedenfalls geht es um mehr als um ein utilitaristisches Nutzenkalkül oder um schlichte Positivität. […] Jedenfalls aber gilt: ‘Es gibt richtige und falsche Metaphysik, auch und gerade im normativen Bereich von Ethik und Recht, wo es um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit geht. Ob wir das eine oder das andere vor uns haben, müssen wir jeweils herausfinden. An die Arbeit!’ […] Claus Dierksmeiers Beitrag […] zeigt, dass Verantwortung – und damit nicht zuletzt das Recht – eine Metaphysik der Freiheit impliziert.»
Alexander Aichle, Martin Borowski, Elisabeth Holzleithner und Joachim Renzikowski, «Editorial», in: RphZ 3/2018, S. III f.
Dass das Böse nicht als eine eigenständige Kraft angesehen wird, hat entgegen Lipowatz mit Hegel nicht aufgehört – höchstens insofern, als heute die Metaphysik (Seifert: die Metapsychologie) und mit ihr das Böse (Seifert: der Todestrieb) überhaupt als überholt gelten.
Freiheit und Krisis, S. 459
Es fehlt ein Nachdenken über den Wahn.
Freiheit und Krisis, S. 269
Die existenziale Psychoanalyse gehört zur philosophischen Metaphysik (sie ist philosophische Metaphysik).
Freiheit und Krisis, S. 23
Doch wie in der Philosophie gibt es auch in der Psychoanalyse «schlechte Metaphysik», «Vorhandenheitsontologie» oder «Substanzontologie», die die ontologische Differenz verletzen und das psychische Grundgeschehen aus der Psyche hinaus auf (oder in) die Welt werfen: Freiheit wird zu einem Seienden (zu einem Objekt des gegenständlichen Denkens) gemacht.
Freiheit und Krisis, S. 66
Die Abwehr der Freiheit gelingt auch und gerade über Theoriebildung in den Wissenschaften, in der Philosophie und der Psychoanalyse. Solcher «schlechten Metaphysik» oder Ideologie entspricht im Alltag das ideologische «Gerede» (Heidegger), dem es um eine «Beruhigung über den Tod» geht. Hier wie dort – in Praxis wie Theorie – wird die Unverfügbarkeit des Daseins abgewehrt.
Freiheit und Krisis, S. 108
Horst-Eberhard Richter […] bringt die gesellschaftliche Verdrängung mithilfe schlechter Metaphysik oder Psychoanalyse wie folgt auf den Punkt: «[D]ie Hoffnung der Gesellschaft, die Verleugnung des Todes mit Hilfe der Psychoanalyse dadurch absichern zu können, dass diese in der Todesangst nichts als unverarbeitete Trennungs-, Kastrations-, Trieb- oder Überich-Angst nachweisen könnte, muss ebenso scheitern wie jene Hoffnung, alle Angst auf korrigierbare organische Fehlregulationen zurückzuführen».
Freiheit und Krisis, S. 118
Bei Adorno, dem es um die Rettung der Wahrheitsgehalte der Metaphysik und Theologie ging, zeigte sich ein solches sinnkritisches Denken noch: Das Denken müsse sich am Äussersten messen, das dem Begriff entflieht, sonst sei es «vorweg vom Schlag der Begleitmusik, mit welcher die SS die Schreie ihrer Opfer zu übertönen liebte».
Freiheit und Krisis, S. 183
Dagegen ist die Wahl der ontologischen Exposition und Entblössung «ein Aufbegehren gegen die allgemeinen, gesellschaftlich-zivilisatorischen Erwartungen», so Földényi, und laufe auf eine «atheistische Mystik» hinaus: auf eine «Offenheit für die Metaphysik in einer Welt, die jeglicher Metaphysik den Kampf angesagt hat, die sie für etwas Anachronistisches, eine aus der Vergangenheit übriggebliebene Skurrilität hält».
Freiheit und Krisis, S. 269
Jede schlechte Metaphysik macht die Freiheit zu einer Vorstellung und verletzt damit die ontologische Differenz: Die psychische Transzendenzerfahrung wird imaginär und – entsprechend der Subjekt-Objekt- Spaltung des Denkens sowie entsprechend der Transzendenzaspekte tremendum und fascinosum – gespalten ‹auf die Welt geworfen›: Die Aspekte und Hypostasen der Freiheit (Ananke, Kenosis, Pleroma, Ekstasis) werden auf Seiendes in der Welt projiziert.
Freiheit und Krisis, S. 296
Der Philosoph Peter Bieri wirft der vorherrschenden angelsächsischen, sprachanalytischen Analytischen Philosophie – die sich in der Tradition des Empirismus und im Anschluss an die beiden Logiker, Mathematiker und Philosophen Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein skeptisch bis ablehnend zu metaphysischen Begriffen wie «Staunen», «Schock» oder «Getragensein» stellt – eine Verdrängung von Inhalten und die Überbetonung formaler Elemente vor, wobei heute teils eine Hinwendung zu Fragen der Metaphysik zu beobachten ist.
Freiheit und Krisis, S. 335 f.
Bloch glaubt nicht an eine Wiederherstellung verbrauchter, pervertierter metaphysischer Begriffe – jedenfalls nicht hinsichtlich des «verrotteten» Begriffs der Metaphysik selbst: «Ein schädlich gewordener Name soll gewiss nicht mehr verwendet werden. Er erweckt sonst falsche, verwechselnde Meinungen, macht überflüssige Arbeit, diese wegzuschaufeln.»
Freiheit und Krisis, S. 356
Genau das, – genau dieser Übergang […] der Metaphysik selbst in die Schicht des Materiellen, das ist das, was von dem einverstandenen Bewusstsein, was von der offiziellen Jasagerei jeglichen Schlages verdrängt wird.
Theodor W. Adorno, zit. in Freiheit und Krisis, S. 363
Das Recht als Übertragungsobjekt
«Das Recht legt nicht nur einen Schleier – wie den der Maya – über das Nichts, es selbst mitsamt allen seinen kulturellen Effekten ist nichts anderes als dieser Schleier.»
Werner Hamacher, «Das Recht im Spiegel. Bemerkungen zu einem Satz von Pierre Legendre», in: ders., Sprachgerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 267–282, S. 269
Das Recht als Übergangsobjekt
Das Gewissen ist unbequem: Es ruft wider Willen, so Heidegger. Sodann neige man dazu, Ruf und Rufer «als fremde Machtäusserung zurückzuweisen» und das Gewissen auf wissenschaftlichem Weg zu leugnen. Der Ruf des Gewissens wird mit Hinweis auf seine Nicht-Beweisbarkeit negiert. Im Sinne dieser fremden Machtäusserung (etwa einer vorgeblich moralisierenden, bevormundenden «linken Elite») «kommt der Ruf zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist», wie Heidegger sagt, sondern «aus mir und doch über mich» – doch entgegen Heidegger kommt dieser Ruf durchaus (auch) von den Anderen: einfach nicht von im Über-Ich internalisierten Anderen. Als Übergangsobjekte rufen der Andere und das Recht in die Freiheit. Der Ruf kommt mit dem Wort des Anderen. Der Ruf des Gewissens ruft aus dem ideologischen Zusammenhang heraus. Er ruft aus dem Gerede heraus in die Rede, in die eigene Urheberschaft. Er ist ein Ruf zur Erhebung der eigenen, unverwechselbaren Stimme. Als Übergangsobjekt hat das Recht die Funktion eines solchen Rufs oder Rufers.
Freiheit und Krisis, S. 484
Empfindlichst gegen das Imaginäre
«Jede faule Synthese liegt fern, doch eigenste Gebiete wieder zu besetzen, um des ‘Reichs der Freiheit’ willen, steht genau dem zweiten Akt der Aufklärung wohl an. Empfindlichst gegen das Imaginäre, doch ebenso für das Subversive wie Transzendierende, gerade ohne Transzendenz darüber.»
Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a. M. 1968, S. 22 (Hervorhebungen durch mich)
Wie sehr die Freiheit der Unterstützung durch imaginäre Verzerrungen und Verfälschungen bedarf, also durch die Verzerrung des Begegnenden (oder – um einen positiv konnotierten Begriff zu nehmen – durch Phantasie), ist wohl die grosse Frage. Möglicherweise liegt dieser gesellschaftstheoretischen Frage ein Missverständnis zugrunde, welches wie folgt aufgelöst werden kann: Die konkrete Utopie gehört in Lacans Register des Realen (der Freiheit). Sie ist gerade keine konstruierte Phantasie, nichts Imaginäres und kein Symptom, hinter dem sich ein versteckter Handlungssinn verbirgt. In diesem Sinn sagt Freud: «Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte.»
Freiheit und Krisis, S. 513
Freiheit hat den Menschen
Freiheit fühlt sich wie eine Fremdbestimmung an, obwohl sie gerade keine ist. Deshalb gibt es den Begriff Allonomie, und deshalb sagte Heidegger: Freiheit hat den Menschen (und nicht er sie).
Adorno über die Psychoanalyse:
«Ihre genaue und unverwässerte Kenntnis ist aktueller als je. Der Hass gegen sie ist unmittelbar eins mit dem Antisemitismus, keineswegs bloss weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbestimmung besteht, welche die Antisemiten in Weissglut versetzt.»
Theodor W. Adorno, «Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit» (1959), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 10–28, S. 25
Psychoanalytisches Denken & Wendung aufs Subjekt
In der Art des Denkens, die Dinge wie den Rechtsradikalismus «von vornherein ansieht wie Naturkatastrophen […], da steckt bereits eine Art von Resignation drin, durch die man sich selbst als politisches Subjekt ausschaltet […]».
Theodor W. Adorno, zit. bei Arno Widmann
Inkommensurabilität der Psychoanalyse und Grenzen der Soziologie
«Bei diesem Problem ist nun die empirische Sozialforschung in einer einigermassen schwierigen Lage. […] Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass gerade die Tiefenprozesse […] sich so abspielen, dass sie selbst mit den raffiniertesten Methoden […] kaum dingfest zu machen sind. Es lässt sich eben nicht dingfest machen, was als unbewusster Prozess selber das schlechterdings Undingliche ist.»
Theodor W. Adorno, «Fernsehen und Bildung» (1963), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 50–28, S. 61
Inkommensurabilität der Psychoanalyse und Immunisierung gegen Kritik
Mit Immunisierung gegen Kritik werden Ideologien gestützt. Das ist ein Problem der Psychoanalyse, sofern Ideologien der Fremdbestimmung sich psychoanalytisch geben und als Analyse auftreten. Aber das Umgekehrte gilt eben auch und vielleicht noch mehr: Mit dem Vorwurf der Immunisierung werden ebenfalls Ideologien gestützt. Dies ist dann der Fall, wenn von der Psychoanalyse empirische Beweise verlangt werden im Verkennen, dass sie nicht empirisch an ihre Gegenstände herangehen kann (Stichwort: Inkommensurabilität der Psychoanalyse).
Neurotische Projektion oder Leugnung des Bösen (Ideologien der Fremdbestimmung, ideologische Hass- und Selbsthass-Abwehr)
«Wie die vorangegangenen Überlegungen zeigten, ist das Böse aber gerade das Nicht-Gegenständliche, weswegen bereits die Rede von ‘dem Bösen’ irreführend ist und ihm in die Karten spielt. […] Auch ist es nicht das Andere, sondern das eigene Andere. […] In einer zu starken Verwendung – als das schlechthin Andere – droht der Begriff, Menschen machtpolitisch als Feinde zu instrumentalisieren und zu dämonisieren [Das Böse sind die Anderen!]. In einer zu schwachen Verwendung – als blosser Defekt – hingegen verliert der Begriff seine normative und diagnostische Bedeutung und kann allein natürliche Übel wie hirnorganische Defekte erklären [Das Böse gibt es nicht!]. Beide Male wird das Subjekt des Bösen in letzter Konsequenz zu einem unfreien Objekt degradiert […].»
Jörg Noller, Gründe des Bösen. Ein Essay im Anschluss an Kant, de Sade und Arendt, Basel 2019, S. 103
Das banale Böse ist ein Böses (Abwehr), das sich selbst verdunkelt (Abwehr der Abwehr: ideologische Hass-, Selbsthass- und Schuldabwehr). Zugrunde liegt eine Weigerung, sich in und durch Begegnung (‘im Anderen’) als (gleich) verletzliches, sterbliches Wesen zu erkennen. Das Subjekt dieses Bösen geht auf in der haltgebenden Norm, wird zum blossen Agenten der herrschenden Ideologie und entledigt sich seiner Personalität: «Das grösste begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heisst, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein», «die sich weigern, selbst darüber nachzudenken, was sie tun, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren», die es «versäumt haben, sich als ein jemand zu konstituieren» und die «unfähig [sind], mit Anderen zu kommunizieren».
Hannah Arendt, Über das Böse, München und Zürich 2012, S. 101 f.
Es liegt eine psychotische Verwerfung der Freiheit vor (Abwehr) und eine neurotisch-ideologische Verdrängung dieser Verwerfung (Abwehr der Abwehr).
Freiheit und Krisis, S. 62
Unbewusst sind (respektive unbewusst gemacht werden) demnach Freiheit, Abwehr und Ideologie. Mit den Begrifflichkeiten Lacans liesse sich formulieren, dass Teile des Realen, des Imaginären und des Symbolischen unbewusst gemacht werden: erstens das abgründige Sein (Lacans Reales), zweitens der Umstand, dass man sich imaginäre Wunschvorstellungen über das Sein macht (Abwehr), und drittens der Umstand, dass man solche Wunschvorstellungen ideologisch-sprachspielerisch rationalisiert (Abwehr der Abwehr, Kants Vernünfteln). Das Gewissen, verstanden als Ruf der Freiheit, macht auf diesen Missbrauch der Register des Imaginären und Symbolischen zwecks Abwehr des Realen aufmerksam.
Insgeheim wissen wir (Gewissen, Schuldbewusstsein), dass wir ein Sein (Freiheit), ein Tun (Abwehr) und ein Wissen (Gewissen, Ruf der Freiheit) unbewusst machen. Das Unbewusst-Machen der Freiheit gelingt auf dem Weg eines Wegsehens vom Nächsten und von der Realität, und dieses Wegsehen gelingt durch imaginäre Überzeichnung des Nächsten und der Realität (des Begegnenden). Funktion der Ideologie ist, dass diese imaginäre Überzeichnung des Begegnenden nicht als imaginäre Überzeichnung des Begegnenden bewusst wird, sondern dass imaginär überzeichnetes Begegnendes als Realität erscheint.
Freiheit und Krisis, S. 64
Ereignis-Revisionismus
Es wäre «Ereignis-Revisionismus» (Badiou), Psychoanalyse wie eine empirische Wissenschaft zu betreiben und empirische Beweise zu fordern für Kastration und Todestrieb, für die abgründige Freiheit und die Rebellion des Subjekts gegen sie.
Freiheit und Krisis, S. 36
Paul Tillich über die Psychoanalyse:
«Man kann den Marxismus weithin als eine Methode der Enthüllung auffassen und ihn darin mit der Psychoanalyse zusammenstellen – Enthüllung ist für den Betroffenen schmerzlich, ja unter Umständen zerstörend. […] Der Mensch wehrt sich gegen die Enthüllung seiner wirklichen Existenz, solange er kann; denn wenn er sich ohne die verhüllenden Ideologien sieht, auf denen, wie bei Oedipus, sein Selbstbewusstsein beruht, bricht er zusammen. Die affektgeladene Ablehnung von Marxismus und Psychoanalyse […] ist der Versuch sozialer Gruppen und einzelner Persönlichkeiten, der Enthüllung zu entgehen, die unter Umständen Vernichtung für sie bedeutet.»
Paul Tillich, Auf der Grenze (1962), Zürich 1971, S. 62
Verdrängung mithilfe psychoanalytischer Theoriebildung
«Freud glaubte, dass viele psychopathologische Erscheinungen aus der unterdrückten Sexualität eines Menschen resultieren. Ich glaube, diese Sicht ist viel zu eng gefasst. In meiner klinischen Arbeit habe ich mittlerweile begriffen, dass man nicht nur seine Sexualität, sondern sein gesamtes kreatürliches Selbst und besonders dessen endliche Natur unterdrücken kann. […] Therapeuten vermeiden es grösstenteils, sich direkt mit der Furcht vor dem Tod zu befassen. Vielleicht rührt das daher, dass sie sich scheuen, sich ihrer eigenen Angst zu stellen. Weit wichtiger ist jedoch, dass professionelle Institutionen wenig oder überhaupt keine Ausbildung in einer existenziellen Herangehensweise bieten […]. Der Tod jedoch juckt sehr wohl. Er juckt die ganze Zeit – er ist immer bei uns, kratzt an einer inneren Tür, summt leise, kaum hörbar, direkt unter der Membran des Bewusstseins. Versteckt und getarnt, in einer Vielfalt von Symptomen durchsickernd, ist er der Quell zahlreicher Sorgen, Belastungen und Konflikte.»
Irvin D. Yalom, In die Sonne schauen, München 2008, S. 14–16
Ideologien (Modelle) der Fremdbestimmung innerhalb der Psychologie / Psychoanalyse
«Die existenzielle therapeutische Position legt dar, dass das, was es uns so schwer macht [lies: woran wir leiden], nicht nur unserem biologisch-genetischen Substrat (ein psychopharmazeutisches Modell) entspringt, nicht nur unserem Kampf mit unterdrückten instinktiven Trieben (ein freudscher Standpunkt), nicht nur an wichtigen, von uns verinnerlichten Erwachsenen hängt, die vielleicht nicht mitfühlend, nicht liebevoll oder neurotisch waren (eine objektbezogene Position), dass es nicht nur gestörte Denkformen (eine Position der kognitiven Therapie) sind, nicht nur Scherben vergessener traumatischer Erinnerungen oder aktuelle Lebenskrisen […], sondern dass es auch – die Konfrontation mit unserer Existenz ist.»
Irvin D. Yalom, In die Sonne schauen, München 2008, S. 192 f.
Monstrosität der Sinnfrage
Das Subjekt flieht mit Lüschers Worten vor der Monstrosität der Sinnfrage, die nur der Narr leugnen könne.
Freiheit und Krisis, S. 309
Bestimmung der Freiheit von ihren Grenzen (den Pathologien) her
«Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte wenden, zu denen man redet. Ihnen wären die Mechanismen bewusst zu machen, die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst. […] Das Problem des praktischen Vollzugs solcher subjektiven Aufklärung könnte wohl nur eine gemeinsame Anstrengung von Pädagogen und Psychologen lösen, die nicht unterm Vorwand wissenschaftlicher Objektivität der dringendsten Aufgabe sich entziehen, die ihren Disziplinen heute gestellt ist.»
Theodor W. Adorno, «Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit» (1959), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 10–28, S. 27
«Transzendenz des Daseins und Freiheit sind identisch!»
(Martin Heidegger)
Freiheit – obschon sie unbemerkt und graduell unablässig hervorgebracht wird – vereinzelt das Subjekt radikal. Dieser Kontrollverlust geschieht in der präpsychotischen Dekompensation und auch in der Depression (Krisis); die Abwehr schützt vor der Dekompensation und Depression. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von Leidensvernichtung, Leidensflucht und Leidensverachtung. Das Ich scheide Unlust aus und projiziere seinen Schmerz in eine äussere Unlustquelle: «Das kann dazu führen, dass jemand lebenslänglich Aussenfeinde zur Verfügung haben muss, um die anhaltende Gefahr depressiver Zusammenbrüche zu bannen.»
Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 26, Frankfurt a. M. 1978, S. 238
Freiheit und Krisis, S. 93 f.
Horst-E. Richter, Der Gotteskomplex, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 130
Das Lachen der Täter (Klaus Theweleit) – Transzendentalität des Lachens
Der ‹Starke›, der sich die Ohnmacht, Schwäche und Angst verbieten muss, identifiziert sich mit Ohnmacht, Schwäche und Angst, «indem er den Schrei, den er selbst nicht ausstossen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt», so Horkheimer und Adorno zur Vernichtung des Nichtseins stellvertretend in Anderen, die sich in die Realität übersetzt: «Die Angst, die einem selbst nicht mehr droht, explodiert im herzhaften Lachen, dem Ausdruck der Verhärtung des Individuums in sich selbst, das richtig erst im Kollektiv sich auslebt» – und «die Einbildung von Grausamkeit wie die von Grösse verfährt in Spiel und Phantasie so hart mit den Menschen wie dann der deutsche Faschismus in der Realität».
Freiheit und Krisis, S. 115
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1944), Frankfurt a. M. 1991, S. 120 f.
Vernichtung des Nichts (Krisis, Kenosis, tremendum) stellvertretend in Anderen
«Das Nichtsein im Kern der eigenen Identität ist, unter anderem, ein Vorgeschmack des Todes; und eine Möglichkeit, den Schrecken der menschlichen Sterblichkeit abzuwehren, ist die Liquidation derer, die dieses Trauma verkörpern. Auf diese Weise beweist man, dass man Macht hat über den einzigen Gegner – den Tod –, den man noch nicht einmal im Prinzip besiegen kann. Macht verabscheut Schwachheit, weil diese sie an die eigene Hinfälligkeit erinnert. Juden waren für die Nazis ein ekelhaftes Nichts, ein Auswuchs, ein obszöner Hinweis auf die schmähliche Verletzlichkeit des Menschen. Es galt sie zu vernichten, um die Unversehrtheit des eigenen Seins zu bewahren. Für den Philosophen Otto Weininger verkörpern Frauen eine Art fürchterliche Nichtexistenz.»
Terry Eagleton, Das Böse, aus dem Englischen von Hainer Kober, Berlin 2012 S. 125 f.
Rückkehr des Realen in Form des Lagers
Das Begehren zielt auf ein phallisches Geniessen, dessen extreme Formen Mord, Folter, Menschenopfer oder Kindesmissbrauch sind. Die lacanianische Psychoanalyse schlägt diese «Erfahrungen der rohen Triebe» (Schulte) dem Realen zu – sprich: dem Absoluten. Mord und Folter sind aber nur für die Opfer das Reale, Verschlingende: Als Lager kehrt das ausgeschlossene Reale in die Systeme zurück (Žižek). Hinsichtlich der Vernichtung des ‹eigenen› Nichtseins ist das Geniessen eine perverse, den Tod stellvertretend in Anderen rächende Imagination. Der perverse Täter ‹bringt› das Reale zum Opfer – so wie Kreon das «völlig ungedeckte Ausgesetztsein» (Heidegger) zu Antigone ‹bringt›, indem er sie in ein Grabmal einmauert. Das imaginäre Phantasma des Sieges über den Tod auf der Seite des Täters ist das Reale auf der Seite des Opfers.
Freiheit und Krisis, S. 460
«Ein derartiges Verantwortungsvakuum des totalitären Systems äussert sich nach Arendt in Form von Konzentrations- und Vernichtungslagern […] Arendt bezeichnet diese Form der systematischen Entpersonalisierung in Umwandlung von Kants Begriff als das ‘radikal Böse’.»
Jörg Noller, Gründe des Bösen. Ein Essay im Anschluss an Kant, de Sade und Arendt, Basel 2019, S. 92
Das Nichts gehört zum Sein
«Die Wahrheit ist, dass Nichtsein nicht vernichtet werden kann», so Eagleton. Jaspers attestiert dem Nationalsozialismus eine «Wut auf Welt und Menschen» und eine «Wut auf das eigene verachtete Dasein». Das Nichtsein ist entgegen Epikur, der das Nichts ideologisch auf erkenntnistheoretischem Weg ‹weg-vernünftelt›, nicht einfach nichts: «Der Tod ist zugleich ein Zuwenig und Zuviel an Sein. Er ist ungeheuer bedeutungsvoll, aber auch so leer wie ein unbeschriebenes Blatt.» (Eagleton) Das Nichts gehört zum Sein. Es ist kein «Nichts, so, wie es vorgestellt wird durch die vorstellende Verneinung des Etwas» (Heidegger). Die philosophischen Schulen Stoa und Epikureismus gleichen sich hinsichtlich der Verleugnung des Nichts (der psychoanalytischen «Kastration»): Die Stoa sei der Versuch gewesen, die Verletzlichkeit aufzuheben – eine Egozentrie, die sich als Freiheit missversteht, so der Philosoph und Jaspers-Schüler Hans Saner.
Freiheit und Krisis, S. 83
Zum Begriff der Wissenschaft
«Einmal meinte er […] Freiheit, die Emanzipation von der Bevormundung durch heteronome Dogmen. Heute ist Wissenschaftlichkeit […] zu einer neuen Gestalt der Heteronomie geworden. […] Wissenschaftliche Approbation wird zum Ersatz der geistigen Reflexion […]. Der Panzer verdeckt die Wunde. Das verdinglichte Bewusstsein schaltet Wissenschaft als Apparatur zwischen sich selbst und die lebendige Erfahrung. […] Wissenschaft als Ritual dispensiert vom Denken und von der Freiheit. […] Der Gedanke ans praktische Vorwärtskommen wird bei vielen eine so eiserne Vormacht innehaben, dass nichts im Ernst ihm gegenüber erwogen wird. Ihre Haltung ist automatische Abwehr […]. Was fehlt, spürt ein jeder im Grunde selbst; […] der Geist selbst trägt als nicht sich Bescheiden bei dem, was der Fall ist, jenen Schwung in sich, dessen es subjektiv bedürfte. Die Verpflichtung, seiner Bewegung sich anzuvertrauen, hat jeder unterschrieben, der einen geistigen Beruf wählte.»
Theodor W. Adorno, «Philosophie und Lehrer» (1962), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 29–49, S. 45–48
Die Geisteswissenschaften erforschen die Selbstinszenierung (das «Agieren») der Menschen
«Die Geisteswissenschaften erforschen mit aller wünschenswerten wissenschaftlichen Strenge, wie sich der Mensch in symbolischen kulturellen Kontexten selbst inszeniert. […] Wer die Geisteswissenschaften attackiert, unterminiert die Fähigkeit des methodologischen, reflexiven kritischen Denkens. Wer für die Naturwissenschaften und die Technik marschiert, ohne die Geisteswissenschaften gleichzeitig und mit denselben Argumenten zu stärken, zerstört die Grundlagen des Projekts der Aufklärung, dem wir den Begriff des kritischen Denkens verdanken.»
Kant und das «radicale Böse»
Kant sah die Rationalisierung der Rebellion gegen Unverfügbarkeit, die er «Vernünfteln» nennt, noch als eine Weise der Vernunft selbst an (als «Sophistikationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst»). Das «radicale Böse» war ihm eingestandenermassen unbegreiflich. Der tremendum-Aspekt des Absoluten (psychoanalytisch: die Kastration; theologisch: die Kenosis; philosophisch: das Nichts – Name ist Schall und Rauch) wurde im Idealismus verworfen. Aus diesem Grund war Kant auch der Todestrieb, das verneinende Prinzip, das sich, wie Nietzsche sagt, stellvertretend an allem, was leiden kann, an der Zeit rächt, unbegreiflich.
Thanos Lipowatz bringt diese Verkennung des Bösen wie folgt auf den Punkt: «Das metaphysische Denken von Sokrates bis Hegel schliesst die Existenz eines Willens zum Bösen als Selbstzweck aus und behauptet, dass der Mensch das Böse als ‹etwas Gutes› will». Darin, dass er das Böse nicht naturalistisch ontifiziert, war Kant Freud hingegen voraus: Es sei eine analytische «Stärke Kants, das solchermassen aufgewiesene Böse weder naturalistisch zu ontifizieren – dies käme in der Konsequenz einer blossen Vertierung des Menschen gleich – noch es gänzlich mit dem bewussten Willen gleichzusetzen», so Thomas Rentsch zu Kants Perversionsanalyse der Moralität, und «Geschichte, Praxis, Lebenserfahrung und aller Alltag zeigen uns, dass die von Kant analysierten Pervertierungen für die menschliche Wirklichkeit auch dann prägend sind, wenn wir es nicht mit offenen verbrecherischen Handlungen zu tun haben, sondern mit ‹ganz normalem› Verhalten».
«Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich» (Yehuda Bauer).
Freiheit und Krisis S. 92 f., 127 und 457 sowie Jörg Noller, Gründe des Bösen. Ein Essay im Anschluss an Kant, de Sade und Arendt, Schwabe Verlag 2019, S. 65–75
Ist Psychoanalyse eher ein Denken oder ein Sehen?
Das psychoanalytische Denken ist das ganz Andere des erkenntnistheoretischen Denkens. Die Psychoanalyse untersucht Zustände und Spannungen, die weitenteils ausserhalb des Kognitiven liegen, so der in psychoanalytischer Rechtstheorie promovierte Jurist Martin Schulte: Die Sprache der Psychoanalyse ist metaphorisch. Erforderlich ist eine «völlige Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen» (Rentsch). Dementsprechend ist Psychoanalyse eher ein Sehen: ein Beobachten der Selbsttäuschungen, die vor dem Ausgesetztsein der Freiheit schützen. Schleier der Maya (Wahn) heisst – mit Dorothee Sölle gesprochen – dass Menschen sehenden Auges nichts sehen und mit hörenden Ohren nicht hören. Bezüglich dieser Blindheit lässt Nietzsche seinen Zarathustra fragen: «Muss man ihnen [den Menschen] erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen [zu] hören?» Psychoanalyse will zu einem Sehen und Denken (zu einer Öffnung des Geistes) befreien. Aber diese Öffnung ist keine Wohlfühloase.
Freiheit und Krisis S. 31 f., 411
Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen
Mittel und Werkzeuge des Geistes «sind um ihrer selbst willen da und gänzlich unpraktisch» (Kurt Tucholsky, zit. in Klaus-Peter Schulz (1959), Tucholsky, Hamburg 1989, S. 62).
Rebellion gegen den Tod (die Kenosis) und Tod im Leben
«Sölle hat deutlicher als andere christliche Autorinnen die Vergänglichkeit des Menschen angenommen und vom ewigen Leben geschwiegen.» Die Hybris, die gelebte Rebellion gegen den kreatürlichen Tod führt zum «Tod mitten im Leben», zur Begegnungsunfähigkeit, zum «sozialen, kriegerischen, wirtschaftlichen, konsumistischen Tod». «Nicht der Tod sondern das Töten, Morden und Ausbeuten ist abzuschaffen, sagt sie.» (Hans-Jürgen Benedict)
Töten ist ein Transzendentalverhalten. Die schwerste Strafe erleide der Täter im Augenblick der Tat (hoc ipso), so Cicero. Strafe ist die Beziehungsunfähigkeit und die Isolation in der Selbstüberhöhung und Selbstvergötterung – die sprichwörtliche Einsamkeit an der Macht (das Gericht geschieht hier und jetzt). Gradualistisch erleiden wir diese Strafe alle, auch wenn dies nicht wahrgenommen wird. Der Philosoph Frithjof Bergmann bringt die psychische und geistige Verschliessung, die die (Todes‐)Strafe ist, wie folgt zum Ausdruck: «Die meisten Menschen sind drei Viertel tot».
Freiheit und Krisis, S. 541
Psychoanalyse ist unser eigenes (verschüttetes) Denken
Das «Stirb, bevor Du stirbst!» des Sufismus ist das erste Gebot der «Ethik der Psychoanalyse»: das (unmögliche) Gebot, die Anerkennung des Todes zu leben – sprich: sich in seinen alltäglichen Lebensvollzügen so klein zu machen, wie man ist. Psychoanalyse ist aufgewärmte Denkgeschichte: Sie ist ein Ort, an den die Gesellschaft das Denken (über den Tod) delegiert.
Freiheit und Krisis, S. 153
«Die Psychoanalyse ist das eigene Denken der Jurisprudenz.»
Freiheit und Krisis, S. 544 (Schlusssatz)
Freiheit ist Nichtidentität
«Nicht nur lässt die Psychoanalyse offen, was ihr Nutzen ist. […]. Sie leugnet die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz nicht und führt zur Akzeptanz von Schwächen. Auf der Couch ist Platz auch für den Tod. Darum ist die Psychoanalyse keine Selbsttechnik im Dienst des kapitalistischen Konkurrenzkampfs, wie ihr immer wieder vorgehalten wird. […] Und allmählich gewinnt der Klient Nähe zu sich und Distanz zu seiner Identität. […] Wer sich nahtlos mit seiner Identität identifiziert, steckt in der ordnungspolitischen Falle. Da Identität nicht fix ist, benötigt er eine Autorität – den Gesetzgeber, die Nation, das Volk –, die ihm immer wieder bestätigt, wer er ist. Wer seine Identität kennt, ist nie erwachsen geworden.» (Urs Hafner)
«Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heisst identifizieren.» Dagegen sei Dialektik «das konsequente Bewusstsein von Nichtidentität» (Adorno).
Freiheit und Krisis, S. 169
«Was tun?» – Gegen den neurotischen Aktionismus
Nie das Denken abstellen: «Vielfach sabotiert diese Frage [«Was tun?»] den Fortgang von Erkenntnis, nach dem erst etwas sich ändern liesse.»
Adorno hinsichtlich der «Notwendigkeit psychoanalytischer Schulung und Selbstbesinnung im Beruf der Lehrer» für eine Erziehung nach Ausschwitz, in: «Tabus über dem Lehrberuf», in ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 70–87, S. 83. Hier bringt Adorno auch eine Form des psychoanalytischen Widerstands (der Schuldabwehr) zur Sprache: den «Gestus des ‘Du hast gut reden […]’».
«Aber man tut doch am allerwenigsten, wenn man in diese Pseudoaktivität reingerät. Dieser konstante Druck, der da aufgebaut wird, etwas zu tun, ist Teil der Reproduktion der existierenden Ordnung. Don’t talk. Just do something. Ich sage stattdessen: Lass uns nicht einfach Dinge tun. Lass uns anfangen zu reden. Wir brauchen keine Handlungsanleitung, sondern eine Diagnose. […] Die beherrschende Ideologie ist, dass sich die Probleme durch praktisches Tun lösen ließen. […] Man macht Erfahrungen, klar, aber man braucht Theorie, um zu verstehen, was die Erfahrungen dir sagen. Ich bin durch und durch ein Mann der Theorie. […] Die Unis werden […] zu Fabriken, die Experten herstellen. Nein! Das, was als pures, vermeintlich nutzloses Spekulieren erscheint, ist heute nötiger denn je.»
«Was tun? Man zögert, Adorno danach zu fragen. Er gilt ja als einer, der zurückschreckte vor der Praxis.»
Denken ohne Geländer (Arendt)
Das neurotische Subjekt gefällt sich in blindem Aktionismus. Adorno spricht von Pseudoaktivität, Ersatzhandlung und Theater: Es zeige sich eine Flucht in eine Pseudorealität, in der sich, nach der Formulierung von Habermas, der Aktionismus bewegt. Diese Pseudorealität droht von der Kritik entzaubert zu werden: «Die repressive Intoleranz gegen den Gedanken, dem nicht sogleich die Anweisung zu Aktionen beigestellt ist, gründet in Angst». Der Aktivist geht symbiotisch in seiner aktivistischen Eigengruppe auf, und das Gefühl der Geborgenheit im Kollektiv werde erkauft mit dem Opfer autonomen Denkens. Erspart werde dem Subjekt die Erkenntnis seiner Ohnmacht.
Kompromisslos kritisches Denken sei keineswegs ein Nichtstun, so Adorno, sondern Praxis – einfach keine Pseudopraxis. Radikales Denken sei nicht gedeckt von Verhältnissen oder Zwecken. Arendt spricht von einem Denken ohne Geländer. Für ein solches Denken brauche es eine völlige Drehung und Umkehrung funktionaler und instrumenteller Sichtweisen, so Rentsch.
Freiheit und Krisis, S. 324
Schuldabwehr (Widerstand)
«Der tiefste Defekt, mit dem man es heute zu tun hat, ist der, dass die Menschen eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig sind, sondern zwischen sich und das zu Erfahrende jene stereotype Schicht dazwischen schieben, der man sich widersetzen muss. […] Alle diese Dinge dürften nicht einfach ein Fehlen von Funktionen oder von Möglichkeiten sein. Sondern sie entspringen selber i Antagonismus zur Sphäre des Bewusstseins. […] Menschen […] möchten das Bewusstsein und die Last der primären Erfahrung abwerfen […]. Die Herstellung der Erfahrungsfähigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewusstmachen und damit im Abbau dieser Verdrängungsmechanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungsfähigkeit verkrüppeln. Es geht also nicht einfach um die Absenz von Bildung, sondern um die Feindschaft dagegen […].»
Theodor W. Adorno, «Erziehung – wozu?» (1966), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 105–119, S. 113–115
(Adorno wendet sich hier gegen ein rein privationstheoretisches Verständnis von Unterdrückung oder der Ignoranz als bloss vorenthaltene Bildung.)
Widerspruchstheoretischer (perversionstheoretischer) Ansatz
Adornos ganzes Denken war geprägt von der Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten. Adorno bestimmt die ethische Gleichgültigkeit (Pathologie) in epistemologischer, erkenntnis- und sinnkritischer Hinsicht als Selbsttäuschung – also als Abwehr der Freiheit: Freiheit lässt sich bestimmen über die Pathologie der Freiheit – also über Unrecht, Menschenfeindlichkeit, Gleichgültigkeit. Über die Pathologie kann – widerspruchstheoretisch, nicht privationstheoretisch! – die Vernunft (verstanden als das Absolute, Begriffslose) aufgetan werden. Ethik und Analyse (Kritik) koinzidieren.
Kritik darf sich also nicht nur auf marxistisch-soziologistische Weise gegen die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse richten, sondern muss in erster Linie die Selbstunterdrückung des Subjekts in den Blick nehmen. Diese Selbstunterdrückung erzeugt die gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse, die das Subjekt dann rückwegig treffen. Damit erweist sich Adorno ähnlich wie Ernst Bloch als ein psychoanalytischer Denker: Kritik erschöpft sich nicht in der Aufgabe, «den Mangel an Wirklichkeitsbedingungen zu beanstanden, der eine Vernunftausübung blockiert», «nicht in der Beanstandung von fehlenden Rechtsgarantien, mangelnden Bildungsinstitutionen und ausbleibender Chancengleichheit» (Tilo Wesche) – also nicht in der Kritik an Privation, nicht in der Kritik an einem Freiheitsraub durch Andere oder durch eine repressive Umwelt. «Kritik verdankt ihren namensgebenden Stellenwert für die Kritische Theorie vielmehr dem dialektischen Negativismus, entsprechend dem sich Vernunft durch die Verneinung ihrer Gegenkraft verwirklicht, nämlich durch die Verneinung der Pathologien, die sich nicht [privationstheoretisch] als Mangel [nicht als Fremdunterdrückung] erklären lassen. Kritik richtet sich hier also gegen die Pathologien, in denen man sich ohne Zwang oder Not von der Vernunftausübung entlastet.»
Freiheit und Krisis, S. 264 f.
(Existenziale) Psychonalyse als Kulturtechnik
«Spreche ich von der Erziehung nach Auschwitz, so meine ich […] allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft […], in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermassen bewusst werden. […] Eher ist anzunehmen, dass der Faschismus und das Entsetzen, das er bereitete, damit zusammenhängen, dass die alten, etablierten Autoritäten […] zerfallen, gestürzt waren, nicht aber die Menschen psychologisch schon bereit, sich selbst zu bestimmen. Sie zeigten der Freiheit, die in ihren Schoss fiel, nicht sich gewachsen. Darum haben dann die Autoritätsstrukturen jene destruktive und – wenn ich so sagen – irre Dimension angenommen, die sie vorher nicht hatten, jedenfalls nicht offenbarten.»
Theodor W. Adorno, «Erziehung nach Auschwitz» (1966), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 88–104, S. 91 f.
«Besonders schwer ist es, [gegen Unmenschlichkeit] anzugehen, weil jene manipulativen Menschen, die zu Erfahrung eigentlich nicht fähig sind, eben deshalb Züge von Unansprechbarkeit aufweisen, die sie mit gewissen Geisteskranken oder psychotischen Charakteren, den Schizoiden, verbinden.»
Ebd., S. 98
«Wenn in der Erziehung […] das Problem Barbarei mit aller Schärfe in seiner Vordringlichkeit gestellt wird, dann kann, würde ich denken, einfach die Tatsache, dass die Frage nach der Barbarei ins rum des Bewusstseins tritt, allein bereits eine Änderung bewirken.»
Theodor W. Adorno, «Erziehung zur Entbarbarisierung» (1968), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 120–132, S. 122
Es stehe im obersten Interesse der Menschheit, so Adorno, den noch kaum richtig durchdachten Zusammenhang von Normativität («Du sollst») und tremendum («Zone», «Sphäre») zu erhellen, und «dass wir uns der zivilisatorischen Verblendungsmechanismen entäusserten, die diese Sphäre immer wieder uns verhüllen». Die Projektion des tremendum führt zum menschengemachten Grauen in der Welt. Adornos Forderung nach einer Integration des Todes durch die Kultur entspricht auf individueller Ebene das Ziel der psychoanalytischen Einzelanalyse: «Die Integration dieses Traumas in die symbolische Ordnung ist das Ziel der Analyse.» (Schulte)
Fraglich ist, ob – oder in welchem Mass – Menschen die gesellschaftliche Emanzipation und die offene Gesellschaft überhaupt aushalten. Martin Schulte resümiert: «Offen bleibt damit, wie ein Rechtssystem konkret strukturiert sein muss, um die dem Begehren entspringende libidinöse Investition der Teilnehmer der Rechtsdiskurse zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren», und offen bleibt, ob «dies praktisch überhaupt möglich ist oder ob es dazu vielleicht Nietzsches ‹Über-Menschen› bedarf». Grundlage eines solchen utopischen Rechtssystems wäre eine Kultur, die existenziale Konfliktanalyse und Rassismuskritik als eine Kulturtechnik betreibt und damit die Fallen, die sich ihr stellen, in den Blick nimmt anstatt neurotisch verdrängt. Alleine schon ein solches Sprechen über psychische Konfliktursachen könnte bewirken, dass eine Gesellschaft offener wird.
Freiheit und Krisis, S. 503 f.
Wollen wir den Menschen überhaupt verstehen?
Hinsichtlich der «neurotischen Strukturen» des Subjekts und der Gesellschaft, die sich gegenseitig verstärken, frage es sich, wie eine solche Ethik, die «ein allgemein kulturelles Anliegen darstellen dürfte, […] angemessen tiefenpsychologisch sowie transzendental phänomenologisch in den öffentlichen Diskurs eingeführt werden könnte, der weitgehend vom Herr/Knecht-Verhältnis bestimmt bleibt», so Rolf Kühn.1290 Die Kultur braucht ein adäquates, hermeneutisch-anthropologisches Menschenbild, falls sie den Menschen überhaupt verstehen will (was nicht sicher ist).
Freiheit und Krisis, S. 504
Wir reden noch nicht über die grundlegenden Ursachen von Rassismus, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Autoritarismus, die im Bereich des Psychischen liegen. Diese Ursachen werden im Gegenteil durch kollektiv erzeugte ideologische Sprachspiele verdeckt. Damit bleibt auch Emanzipation in grundlegender Hinsicht unmöglich.
Freiheit und Krisis, S. 17 (Anfangssätze)
Verschiebung
«Weiter wäre aufzuklären über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte. Morgen kann eine andere Gruppe drankommen als die Juden, etwa die Alten, die ja im Dritten Reich gerade eben noch verschont wurden, oder die Intellektuellen, oder einfach abweichende Gruppen. […] Konkrete Möglichkeiten des Widerstands wären immerhin zu zeigen. Es wäre etwa auf die Geschichte der Euthanasiemorde einzugehen, die in Deutschland, dank des Widerstands dagegen, doch nicht in dem ganzen Umfang begangen wurden, in dem die Nationalsozialisten sie geplant hatten. Der Widerstand war auf die eigene Gruppe beschränkt; gerade das ist ein besonders auffälliges, weitverbreitetes Symptom der universalen Kälte.»
Theodor W. Adorno, «Erziehung nach Auschwitz» (1966), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 88–104, S. 103 f.
Wenn es keine Juden gäbe, der Antisemit würde sie erfinden: «Der Antisemit macht den Juden» (Sartre).
Freiheit und Krisis, S. 132
Zu schwach für Schwäche
Selbst bedrohlich figurierte Fremde (in der Position des Herrn) bestätigen das Grössen-Selbst, obwohl man sich selber in eine Opferposition schickt – diese bleibt aber immer eine erhabene, selbstgerechte Opferposition. Denn hinsichtlich des bedrohlichen Seienden hat man – im Gegensatz zum bedrohlichen Sein – Handlungsmacht. Feinde lassen sich (in der Phantasie) vernichten. Sie lassen sich wenigstens denkend identifizieren (dingfest machen). In diesem Sinne ist man selbst in der Opferposition noch Herr der Lage, kann sich bezüglich des Seins Kontrolle vormachen – und in diesem Sinne begehrt oder ‹liebt› der autoritäre Charakter Feinde als Feinde. Er braucht (‹liebt›) sie als Projektionsfläche für die Ananke, die sich nicht einmal denkend identifizieren und begreifen (kontrollieren) lässt. Mithilfe von Feinden wird, wie Grünewald sagt, Angst zurechtgemacht.
So verstanden begehren Rechtsradikale Obdachlose, die sie verabscheuen. Sie brauchen sie für ihre Schamabwehr und ‹lieben› sie als Projektionsfläche für die Kenosis. Rechtsradikale begehren, dass der Obdachlose durch sein Verhalten bestätigt, die Vulnerabilität zu sein, die Rechtsradikale an sich selber nicht aushalten und an sich selber verachten. Rechtsradikale sind zu schwach für ihre eigene Schwäche. Mittels Verachtung von Obdachlosen und der mit dieser Verachtung einhergehenden Phantasie ihrer Vernichtung gewinnen Rechtsradikale ein Gefühl der Kontrolle über ‹ihre› Vulnerabilität oder ‹ihr› Sein zum Tode, das sich noch nicht einmal denkend fassen lässt.
Freiheit und Krisis, S. 179 f.
Flexibilität
«Die Möglichkeit, wie sie heute vielfach gefordert ist und die – wie ich zugestehe – unumgänglich ist, sich, statt ein festes Ich auszubilden, auf stets wechselnde Situationen umzustellen, harmoniert mit den Phänomenen der Ich-Schwäche, die wir von der Psychologie her kennen, in einer, wenn ich mich nicht irre, doch sehr problematischen Weise.»
Theodor W. Adorno, «Erziehung zur Mündigkeit» (1969), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 133–147, S. 143
Die Borderline-Persönlichkeit passt zur heutigen Zeit, die Flexibilität verlangt – wobei «Flexibilität» auch ein Euphemismus für die Absenz von Haltung ist. Der Typus des Borderliners leidet gemäss Holzhey-Kunz an der Schwäche seines Subjektseins, er «weiss sich auch ständig schutzlos ausgesetzt und damit angreifbar. Darauf reagiert er mit einer latenten Grundstimmung von Hass und Misstrauen, die sich oft scheinbar unmotiviert in impulsiven Wutausbrüchen entladen kann». Weitere Symptome seien mangelndes Schuldgefühl, mangelnde Empathie, mangelndes Engagement, ein Schwarz-Weiss-Denken und Kontrollsucht. Die Anerkennung von Schuld bedeute für den Borderliner ein Eingeständnis eigener Schwäche, und Schuld ruft tatsächlich – existenzial unabweislich – in die Ich-Fragmentierung. Als gut empfindet er, was ihn als starkes und freies Subjekt bestätigt – doch: «Der plötzliche Umschlag von Idealisierung in radikale Entwertung einer Person spiegelt die Fragilität des Gefühls der eigenen Stärke und Freiheit wider.»
Das wilde Hin und Her von Identifikation und Begehren spiegelt die Fragmentierungsängste des Ich, das sich Erfahrungen individueller, sozialer und ontologischer Begrenztheit ausgesetzt sieht. Spezifisch-ontische Bedrohungen (eigenes Unvermögen, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse) verweisen auf die unspezifisch-ontologische Bedrohung. Der Borderline-Patient könne Furcht aufgrund seiner «Hellhörigkeit» bezüglich der grundsätzlichen Gefährdung des Lebens auch deshalb nicht tolerieren, weil hinter jeder Furcht die namenlose Angst um das eigene Sein lauert, so Holzhey-Kunz.
Freiheit und Krisis, S. 209 f.
Übergangsobjekt und Vatermord
«Es heisst, dass es keine sinnvolle Schule ohne Lehrer geben kann, dass andererseits der Lehrer sich darüber klar sein muss, dass seine Hauptaufgabe darin besteht, sich überflüssig zu machen.»
Hellmut Becker, in: Theodor W. Adorno, «Erziehung zur Mündigkeit» (1969), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 2019, S. 133–147, S. 140
Irreduzibler Sinn (aber nie zu erreichendes Ziel) des Rechts ist die Abschaffung des Rechts.
Freiheit und Krisis, S. 284
Im Rahmen des Über-Ich-Diskurses hat das Recht eine haltgebende Funktion: Das Recht habe die «phantasmatische Produktion des Signifikanten des vollständigen Anderen», das heisst «ein konsistentes Bild einer Autorität» und «das Gefühl der Kohärenz innerhalb der Rechtsordnung zu vermitteln», so Schulte. In einer autoritären Rechtsordnung repräsentieren Minderheiten die ausgeschlossene «Psychose». Eine solche Rechtsordnung ‹produziert› gewissermassen das kastrierte Subjekt, welches von ihr ausgeschlossen wird. Als Übergangsobjekt hat die Rechtsordnung die gegenteilige Funktion und weicht vor Freiheit zurück – die «Elternfunktion des Staates» (Legendre) ist hier eine ganz andere: «Indem der Andere [lies: der Andere des Rechts] sich partiell und frei ‹zurückzieht› und seinen eigenen Mangel anerkennt, appelliert er an das Subjekt, diese Bewegung zu wiederholen» (Lipowatz). Heidegger bezeichnet dieses Zurückweichen als «vorspringende Fürsorge», die dem Dasein Verantwortung und Freiheit nicht abnimmt. Charakteristisch für die ideologische, haltgebende Seite des Rechts ist dagegen die «einspringenden Fürsorge». Diese ist eine «Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf»: Sie «wacht über jede sich vordrängende Ausnahme» und tendiere dadurch zu einer «Einebnung aller Seinsmöglichkeiten».
Freiheit und Krisis, S. 475
Ideologie, Über-Ich-Diskurs, Herrensignifikant, leerer Signifikant, Befreiung aus alten Normengefügen, ‘Je-Meinigkeit’ der Ideologie
«Von Konformitätsdruck zu sprechen heisst ja nicht, dass alle Volksgenossen gleich werden mussten, sondern dass man das eigene Wollen, Denken und Tun, insbesondere das öffentliche, in ein affirmatives Verhältnis zur ‘NS-Weltanschauung’ setzen musste. […] Damit ist ein zentrales Strukturmerkmal der deutschen Geschichte 1933-45 insgesamt angesprochen: die Einsicht in den Projekt- und Projektionscharakter des Nationalsozialismus. […] um die eigenen Projekte voranzutreiben bedurfte es nicht immer eines Befehls, oft genügte es, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und nach einem konzeptionellen oder ideologischen Scharnier zu suchen, durch das sich die subjektive Aneignung des ‘Nationalsozialismus’ als dessen objektive Ausdrucksform begreifen liess. Jan Kershaws […] Formulierung ‘dem Führer entgegenarbeiten’ bringt die beiden Aspekte ingeniös zusammen. Während die sprichwörtliche Klage ‘Wenn das der Führer wüsste!’ den Projektionscharakter von der anderen Seite betont. Das Positive, die Erfolge, das persönliche Weiterkommen wurden dem ‘Nationalsozialismus’ zugeschrieben […], alles Missliche dagegen den ‘Parteibonzen’ […]. Die schlichten Ideologiekritiker […] wissen immer schon vorher, was herauskommt, darum suchen sie […] nur nach Symptomen des Ideologischen […]. Vielmehr zielt umgekehrt meine Kritik an der Ideologiekritik darauf, dass diese die eigene Position verabsolutiert und das Ideologische voreilig verdinglicht […]. Ohne einen konsistenten Zusammenhang zu bilden, spielten im (!) Nationalsozialismus antisemitische, rassistische, volksgemeinschaftliche, reichsmythologische, expansionistische, agrarmystizistische usw. Ideologeme eine zentrale Rolle bei der Selbstmobilisierung der deutschen Gesellschaft.»
(Per Leo)
In diesem Sinn hält der Gesellschaftstheoretiker Ernesto Laclau den Populismus richtigerweise nicht für eine politische Ideologie, sondern für eine Beschwörung verbunden mit einem Feinddenken: «Ohne die diskursive Konstruktion eines soziopolitischen Feindes gibt es keinen Populismus». Ein bestimmendes Merkmal sei der «leere Signifikant», der mit Wünschen und Illusionen gefüllt und dadurch zu einer Totalität (zu einem «hegemonialen Signifikanten») werden kann. Ein solcher Signifikant könne sich auf einen blossen Namen reduzieren – häufig auf denjenigen eines Führers. Kollektive Identitäten oder Gruppen werden nicht vorgefunden, sondern konstituieren sich durch und in der Anrufung eines sie bildenden und vereinigenden Signifikanten.
Freiheit und Krisis, S. 69
Das Imaginäre (die Beschwörung) als Mittel linker Politik?
Das Verkennen des Realen innerhalb des Symbolischen führt in der psychoanalytischen Gesellschafts- und Rechtstheorie zu problematischen Schlüssen hinsichtlich der Frage, wie der gesellschaftlichen Emanzipation gedient sei: Wenn im Realen nur ein verschlingender Abgrund gesehen wird, der den Menschen psychotisch zu machen droht, dann kann dieses Absolute auch nicht für die Emanzipation starkgemacht werden. Neben Lacans «Psychose» (Krisis, präpsychotische Dekompensation, Verzweiflung) mit ihren beiden Hypostasen des «Realen» (des Verschlingenden, der Ananke) und des «Mangels-an-Sein» (des Untergehens, der Kenosis) sowie neben dem «Geniessen» (jouissance), unter dem eine obszöne, perverse Mordlust (eine wahnhafte Vernichtung der Krisis stellvertretend im Anderen) zu verstehen ist, auf die sich Lacans «Begehren» richtet, findet sich bei ihm nur noch das Register des Imaginären, welches als ‹Werkzeug› für die politische Arbeit im Rahmen des Symbolischen infrage kommt. Folge ist, dass psychoanalytische Gesellschaftstheoretiker und -theoretikerinnen wie Slavoj Žižek und Judith Butler oder psychoanalytische Rechtstheoretiker bei ihrer Suche nach Wegen der politischen Emanzipation (oder wie bei Legendre nur der friedlichen Koexistenz) auf das Imaginäre fokussieren. Auf diesem Weg können sie aber nur bei der Identitätspolitik landen, die den Ausschluss (und damit gerade keine friedliche Koexistenz aller) zur notwendigen Kehrseite hat.
Freiheit und Krisis S. 71 f.
Empfindlichst gegen das Imaginäre!
Gemäss Bloch steht – «um des ‹Reichs der Freiheit› willen» – ein zweiter Akt der Aufklärung an, eine unbanale und unterirdische Gottlosenbewegung: «Empfindlichst gegen das Imaginäre, doch ebenso für das so Subversive wie Transzendierende, gerade ohne Transzendenz darüber».
Ernst Bloch (1968), Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a. M. 2009, S. 22
Hinhören (Begegnenlassen) und Rechtliches Gehör
«Auf der elementarsten Ebene unseres politischen Lebens» sind wir laut Burkhard Liebsch «unweigerlich für den Anspruch des Anderen, der jeder beliebige andere sein kann, ‘aufgeschlossen’». Diese «Ansprechbarkeit durch den Anderen» könne man ignorieren, leugnen oder «vergleichgültigen». Man könne den Anderen «sich politisch aus dem Sinn schlagen». Gelingt dies, so würde der Andere «aufhören, überhaupt politisch zu existieren und seiner Stimme beraubt». «Und dieses Überhören oder Weghören, das im Modus der Abwendung vom Anderen doch nicht vermeiden kann, sich zu ihm zu verhalten, muss man vor sich selbst gewissermassen verheimlichen, um zu dem Schluss zu kommen, er gehe einen überhaupt nichts an […]. Die offene Gesellschaft wird jedenfalls nur dann wirklich ‘offen’ sein können, wenn sie keinen Versuch dieser Art macht […].» Eine offene Gesellschaft sei «jener primären, uns politisch nicht zur Disposition stehenden Offenheit verpflichtet, die bedeutet, dass jeder Andere […] wenigstens Gehör finden muss». Die Freiheit eines jeden sei als politisch entzogen zu denken.
Burkhard Liebsch, Die offene Gesellschaft als ihr eigener Feind, Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2016, S. 92–101, S. 99 und 101
In dieser positiven Hinsicht (Gebot) des «Siehe hin!» oder «Höre hin!» oder «Begegne unvoreingenommen!» findet die moralische summa lex ihren höchsten Ausdruck im Verhältnismässigkeitsprinzip (Einzelfallgerechtigkeit) – aber auch in Rechtsprinzipien wie dem Anspruch auf das rechtliche Gehör, der richterlichen Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit oder im Individualisierungsprinzip in der Sozialhilfe.
Freiheit und Krisis, S. 525 f.
Psychoanalyse und Marxismus
Im November 1929 hat Kurt Tucholsky «eine ‘Erbsünde’ begangen, indem er die Möglichkeit unterstellte, tiefenpsychologische Affekte wie Mordlust, kollektive Raserei usw. könnten sich auch hinter der Fassade des Klassenkampfs verstecken». Unter der Überschrift «Psychoanalyse und Marxismus» schrieb Tucholsky: «Der Klassenkampf ist notwendig. Aber das Paradies auf Erden – das wird er uns nicht bringen.»
Klaus-Peter Schulz (1959), Tucholsky, Hamburg 1989, S. 111
Homosexuellenfeindlichkeit (Perversionsabwehr)
«Es waren zuerst die beiden Gerichtsmediziner Ambrose Tardieu in Paris und Johann Ludwig Caspar in Berlin, die schon in den späten 1850er Jahren das gleichgeschlechtliche Begehren von Männern als den wahren Abgrund, als das „namenlose Verbrechen“ und als „dunklen Trieb“ „entdeckt“ und beschrieben hatten. 1886 erhob der Grazer Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing diesen dann als „Inversion“, das heißt als „Verkehrung“ des natürlichen, nämlich heterosexuellen Geschlechtstriebes zur Hauptperversion (neben vielen anderen „Perversionen“ wie die Lüste von Schuhfetischisten, „Statuenschändern“ oder Nekrophilen, die ihm allerdings viel weniger Aufmerksamkeit wert waren).» (Philipp Sarasin)
Der Hass auf den eigenen Hass (auf Angst- und Schamabwehr) kann stellvertretend in Anderen abgewehrt werden, die als pervers figuriert werden – oder anders formuliert: Die Verleugnung des eigenen Hasses gelingt über die Projektion dieses Hasses auf Andere, die als pervers figuriert werden. Diese Projektion, mit welcher das eigene perverse Wollen in Abrede gestellt wird, zeigt sich beispielsweise in der Homosexuellenfeindlichkeit etlicher Vertreter der katholischen Kirche (und fundamentalistisch-evangelikaler Sekten): Der marginalisierten Gruppe der Homosexuellen wird beispielsweise der Kindesmissbrauch in die Schuhe geschoben, der im Rahmen der katholischen Kirche verübt wurde. Ähnlich werden in ultrakonservativen Kreisen Feministinnen und liberale, linke Intellektuelle als pervers inszeniert, die Kinder vorgeblich mit «Sexkoffern» zur Perversion verführen wollen.
Als pervers figurierten Homosexuellen wird unterstellt, dass sie das obszöne Geniessen sind, welches gemäss Lipowatz auf Mord, Folter, Menschenopfer oder Kindesmissbrauch hinausläuft. Im Gegensatz dazu wird stellvertretend in Fremden und Schwachen ein Sein (Ananke und Kenosis) abgewehrt – und mit der Unterstellung eines bösen Tuns (der Unterstellung von Feindlichkeit oder Schädlichkeit) wird diese Seinsabwehr nur undurchsichtig gemacht (rationalisiert).
Freiheit und Krisis, S. 312
Identität und das «Un-zuhause» der Freiheit
«Der Mensch bewohnt die Spiegel. Mit dieser emphatischen Erklärung resümiert der Psychoanalytiker und Rechtstheoretiker Pierre Legendre seine jahrzehntelangen Forschungen im Massiv der juristischen und parajuristischen Literaturen insbesondere des Okzidents. […] Legendre arbeitet als Psychoanalytiker des Rechts. Sein Satz beansprucht den Rang einer Fundamental-Diagnose der Psychohistorie von Rechtskulturen. Er lautet zusammen mit dem Absatz, den er eröffnet, vollständig: Der Mensch bewohnt die Spiegel, den Rohstoff [matière première] der Kulturen. Stumm, unfehlbar, unerbittlich sind sie der Inbegriff der Allmacht – auf ‘dass der Mensch / erkenne, dass er nur ein Abglanz / ist und Eitelkeit.’ (Borges) In Japan inszenieren die traditionellen Riten den verschleierten, den blinden Spiegel, sie besänftigen das menschliche Entsetzen vor dem Nichts. Die Gedankenbewegung dieser Notiz zum Film ‘Dominium Mundi’ ist ebenso ungewöhnlich, wie sie für Legendres Schreiben charakteristisch ist. Legt der erste Satz nämlich nahe, der Mensch bewohne die Spiegel wie ein Gehäuse oder eine Heimstatt, er finde in ihnen als dem Rohstoff der Kulturen seinen festen Grund, von dem er sich nicht entfernen könne, ohne aufzuhören, Mensch zu sein, so legt der letzte nahe, der Mensch bewohne das Entsetzen vor dem Nichts, er sei in den Spiegeln nicht zu Hause, sondern in einem unerbittlichen Un-zuhause, ruhe nicht auf einem Grund, sondern fliehe vor dem haltlosen Abgrund, der sich in Spiegeln auftut. Der Ort der Kulturen ist also offenbar, aber ohne dass Legendre ihn ausdrücklich bezeichnet, zwischen Heimischkeit und Unheimlichkeit, zwischen Rohstoff und unstofflicher Leere gelegen, er ist kein Standort oder gar Wohnort, kein Habitat, sondern die habitualisierte Flucht, kein Akt des Setzens, sondern eine Geste des Entsetzens, kein Eingehen in das, was trägt, sondern ein Zurückweichen vor dem unerträglichen Anblick dessen, was nichts trägt und von nichts getragen wird. Nicht die Spiegel bewohnt der Mensch, sondern das Entsetzen, das sie auslösen […].»
Werner Hamacher, «Das Recht im Spiegel. Bemerkungen zu einem Satz von Pierre Legendre», in: ders., Sprachgerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 267–282, S. 267 f.
In abgeschwächter Form wird der Einbruchdiebstahl oft als traumatischer Einbruch eines Namenlosen ins Gewohnte erlebt: als ein Einbrechen des «Un-zuhause» (Heidegger) der Freiheit ins Zuhause der Unfreiheit. In dem Masse, wie er traumatisiert, ist der Einbruchdiebstahl eine gewaltsame Freisetzung des Subjekts, die nicht als Befreiung registriert und angenommen, sondern nur als Verletzung (Beschämung) erlebt werden kann. Die Erfahrung, Opfer eines Einbruchdiebstahls geworden zu sein, raubt eine imaginäre Sicherheit, an die wir uns klammern, um nicht frei – sprich: um nicht ontologisch ausgeliefert, ausgesetzt, verletzlich – sein und uns haltlos fühlen zu müssen. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger bringt die Entfremdung auf den Punkt, die in der Flucht vor dem Un-zuhause der Freiheit liegt: «Wer ist fremder, ihr oder ich? Der hasst, ist fremder als der gehasst wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen.»
Freiheit und Krisis, S. 80 f.
Antisemitismus funktioniert wie eine Wahnerkrankung
In der «Mär vom Judäo-Bolschewismus», einer «Dystopie der judäo-bolschewistischen Schreckensherrschaft» vereinigten sich Fremden- und Intellektuellenfeindlichkeit zu einer «politisch profitable(n) Panaroia» (Paul Hanebrink, Das ewige Feindbild, in: LE MONDE diplomatique, Dezember 2019, S. 20 f.).
«Aus psychoanalytischer Sicht funktioniert Antisemitismus wie eine Wahnerkrankung» (Sebastian Winter).
Zu den Intellektuellen, die Kritik (an Ungerechtigkeit und Ausbeutung) übten, gehörten im 19. und frühen 20. Jahrhundert überproportional viele Juden (z. B. Sigmund Freud, Karl Marx, Rosa Luxemburg oder Lei Trotzki). Der Jude steht für eine bedrohliche (seelisch-geistige) Öffnung. Hass richtet sich gegen alles, was mit Öffnung, Prozess und einer offenen Gesellschaft zusammenhängt: «In Frankreich und Italien nahm die ultrakonservative katholische Presse – die in ihrem Kampf gegen das ‘Freimaurertum’ gegen alle wütete, die für Laizismus und die Republik eintraten – die Figur des revolutionären Juden in die Liste ihrer Feindbilder auf.» Auf der anderen, kommunistischen Seite beschwor Stalin das Schreckgespenst des «wurzellosen Kosmopolitismus» unter dem Kampfbegriff «Zionismus». «Heute benutzen rechtsextreme Splittergruppen den Mythos als Kampfinstrument gegen die angebliche ‘Islamisierung’ Westeuropas. (…) Der Boden der Paranoia, auf dem die frühere Mär vom jüdischen Komplott gedieh, ist also weiterhin fruchtbar.»
«Aber bekanntlich haben rationale Überlegungen Verschwörungstheoretiker noch nie interessiert (…) So passen nur in der Vorstellungswelt der Antisemiten der kommunistische Jude und der jüdische Bankier zusammen (…). Beide Stereotype assoziieren ‘die Juden’ mit Kosmopolitismus, der Chaos oder das Böse schlechthin bedeutet.» (Paul Hanebrink, Das ewige Feindbild, in: LE MONDE diplomatique, Dezember 2019, S. 20 f.)
Der Antisemitismus ist für unterschiedliche Geschlechtsidentitäten attraktiv, so der Sozialpsychologe Sebastian Winter: «Ein männlicher Antisemit kann so zum Beispiel Weiblichkeitsvorstellungen projizieren, während weibliche Antisemitinnen ihre Geschlechtsidentität in Abgrenzung zu den ‹verkopften, herzlosen Juden› konturieren können. Im Antisemitismus ist für jeden und jede was dabei.» Projiziert werden in diesem Beispiel durch den Mann ein kastriertes Untergehen (Kenosis) und durch die Frau ein kastrierendes Verschlingendes (Ananke). Der Jude ist «mal Marxist», also verweichlicht, «und mal Hyperkapitalist», also verhärtet, «ganz wie es gerade passt», so der Kolumnist Sascha Lobo.
Freiheit und Krisis, S. 273
Die Gleichsetzung der Worte «Bolschewik» oder «revolutionär» und «Jude» und «das Schreckgespenst des judäo-bolschewistisch-freimaurerischen Komplotts» erzeugte «eine mörderische Energie» (Jean-Jacques Marie, Pogrome im Russischen Bürgerkrieg, in: LE MONDE diplomatique, Dezember 2019, S. 20 f.).
Homo capax – der zugreifende Mensch: Subjektkonstitution über das Recht
Werner Hamacher über das Recht als Übertragungsobjekt (Über-Ich-Diskurs) und als Transzendenzdimension
«Recht ist, in jedem Sinne, eine Sache des homo capax, weil er selbst es ist, der sich in ihm ergreift. […] Self-propriety oder Property in his own Person sind Rechtstitel, weil sie Seins-Titel sind. Als solche nehmen sie den Rang von Natur- und Vernunftprinzipien ein, und als solche geben sie jedem Rechtss seinen substantiellen Grund. […] Wer sum sagt, reklamiert ein suum. Der Sinn von Sein ist Haben, Recht-Haben, Recht. […] Allein weil seine self-propriety ihn gegen ihre Verletzung nicht schützt, weil also Natur und vor ihrem eigenen Prinzip, dem Natur- und Vernunftprinzip und seiner immediaten Rechtlichkeit versagen, bedarf es der Explikation, der Deklaration und Implementierung eines Rechtes, das die Schwächen von Natur und Vernunft kompensiert. […] Das Recht des ontologischen Possessivismus ist also angewiesen auf ein völlig anderes Recht», in welchem «das Prinzip des Eigentums ausser Kraft gesetzt ist. […] Als das schlechthin Äquivalenzunfähige, Inkommensurable, Kommunikationsferne bezeugt dieses einzig Gegebene jeweils die Nicht-Gegebenheit einer für es geeigneten politischen Gemeinschaft und die Nicht-Gegebenheit der gesamten Sphäre des Rechtes und zuerst des Grund-Rechts auf Eigentum. Daraus ist nicht der Schluss zu ziehen, dass es keine Möglichkeit für Rechte gibt, sondern nur der völlig andere Schluss, dass keine substantielle Möglichkeit, keine von einer vorgegebenen Substanz des Menschen verbürgte Möglichkeit für Rechte und vor allem für das Recht auf Rechte gegeben ist. Nicht das präsumtiv immerwährende Recht der Natur oder der Vernunft und nicht das stabilisierte geschichtlich erworbene Recht von Ständen und Klassen, sondern die Rechtsvakanz, die sich in der prädikatlosen Existenz bekundet, eröffnet die Möglichkeit, Gemeinschaften, Rechte und Eigentum auszubilden.»
Werner Hamacher, «The one right no one ever has», in: ders., Sprachgerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 336–362, S. 346–353 (im Regress auf Arendt)
Wittgensteins Ich-tilgender Solipsismus entspricht Heideggers Sprung aus dem «possessiven Subjektivismus». Wie bei Heidegger kommt es auch bei Wittgenstein auf ein Seinlassen an, damit ein Sinnhorizont aufgeht, der das Absolute ist. Diesen Sinnhorizont nennt Wittgenstein «Gott»: «Gott wäre in diesem Sinne einfach das Schicksal oder, was dasselbe ist: die – von unserem Willen unabhängige – Welt.
Freiheit und Krisis, S. 147
Kern des Unbewussten sind die präreflexiv, prä-intentional und vorprädikativ erfassten ‹wahren› Relationen (Wahrheit, verstanden als Aletheia), und diese ‹wahren› Relationen sind nicht in uns drinnen, sondern ‹um uns herum›.
Freiheit und Krisis, S. 67
Fast die ganze Psychoanalyse legt das Gewicht auf den tremendum-Aspekt des Absoluten (Krisis, Ananke und Kenosis), der im Idealismus verworfen wurde – damit wurde das Absolute als solches verworfen. Die Psychoanalyse fällt sozusagen ins andere Extrem: Die ontologische Freiheit wird wie im Idealismus in einer grundlegenden Hinsicht verkannt – einfach in entgegengesetzter Richtung. Das Absolute erscheint nicht mehr als das Tragende, sondern nur noch als abgründiges Loch, in welches man in der Psychose hineinfällt. Ontologisches Ausgesetztsein wird auf das Verschlingende (die Ananke, das Reale) und das Verschlungenwerden (die Kenosis, die Kastration) reduziert. Verkannt wird der ekstatisch-pleromatische Aspekt des weder imaginär noch symbolisch Repräsentierbaren, der als Vertrauensgrundlage konstitutiv für alle menschlichen Systeme ist.
Freiheit und Krisis, S. 70 f.
Hamacher versteht unter Krisis und Logos eher die Metanoia: eine Entscheidung für die Freiheit, Offenheit, und einen Wendepunkt. Dike oder Metanoia, das Hervorbringen der Offenheit, ist immer schon und immer auch in den Systemen ‹drin›: als die Vertrauensgrundlage der Systeme, als (intellektuelle) Redlichkeit und (Selbst‐)Aufrichtigkeit. «Gerechtigkeit, wie sie sich in der Entscheidung, im Urteil und Richtspruch vollzieht, [ist] die lauterste Gestalt der Sprache» (Hamacher).
Freiheit und Krisis, S. 521
Rechtssinn verwirklicht sich in dem Masse, wie das Subjekt sich öffnet, exponiert, verletzlich zeigt und die Erfahrung seiner Verletzlichkeit und Begrenztheit macht und integriert (lebt) anstatt abwehrt. Aufgabe des Rechts und seiner Institutionen ist es, hinsichtlich dieser Öffnung des Menschen haltgebende Rahmenbedingungen zu schaffen, dann aber vor dem Haltlosen der Freiheit und der Verantwortung zurückzuweichen (Funktion als Übergangsobjekt). Das Recht und die Rechtsordnung müssen also Widersprüchliches leisten: Sie sind Übertragungs- und Übergangsobjekt. Seinem authentischen Sinn nach zielt das Recht auf seine Selbstaufhebung: Irreduzibler Sinn (aber nie zu erreichendes Ziel) des Rechts ist die Abschaffung des Rechts.
Freiheit und Krisis, S. 284
Homo sacer – das Recht, Rechte zu haben und das Problem des Possessivismus
Arendts Recht, Rechte zu haben ist, wie es in der deutschen Übersetzung von «The Origins of Totalitarism» heisst, nur so etwas wie ein Recht. Hamacher sieht dieses Recht nicht in einer Habe, Besetzung oder einem Recht-Haben, sondern in einer freilassenden Bewegung des «Volo ut sit!» oder «Sei!»: in einer «Affirmation des blossen Daseins des Anderen – eines hier zum ersten Mal genannten du», einer Spähre, die «jeder Selbst-Aneignung der ‘eigenen Person’ voraus[geht]» (Werner Hamacher, «The one right no one ever has», in: ders., Sprachgerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2018, S. 336–362, S. 354). Das Recht, Rechte zu haben liegt demnach nicht in der Sphäre des Anerkennungswettbewerbs, in dem die Subjekte das Begehren des Anderen begehren (Lacan), um sich als Subjekte zu konstituieren, sondern in einer Sphäre, in der diese Subjekte sich selbst entgleiten. Erst diese «grundlose, unableitbare, unregulierbare und unüberbietbare Affirmation des Anderen in seiner inkommensurablen Existenz» – also die Begegnung von Nackten, Entblössten, Schutzlosen in ihrem Nackt- und Ausgesetztsein – eröffnet nach Hamacher «die Möglichkeit des Rechts»: Grundlose «Existenz als Geben» und «als Geschenk […] eröffnet, indem sie den Anderen in seiner Andersheit bejaht, den Spielraum für eine Gemeinschaft», die «nicht die Gemeinschaft eines bereits vorgegebenen Typus, einer Klasse, Rasse, […] keine Gemeinschaft von Eigenschaften (properties), sondern eine Gemeinschaft der blossen Existenz und als solche eine Gemeinschaft der Eigenschaftslosen, Eigentumslosen, Rechtlosen» (ebd., S. 355). Das Recht, Rechte zu haben besteht demnach in einem Ankommenlassen des Anderen: in einem Begegnen und Begegnenlassen, das den anderen nicht imaginär verzerrt, ihn nicht besetzt, sondern ihn seinlässt und freilässt (Seinlassen des Seienden). Arendts Recht, Rechte zu haben, kann nur den «grundlosen Grund» (ebd.) bieten, der sich auftut, wenn sich Nackte als Nackte, Ausgesetzte, Rechtlose (und in diesem Sinne Freie) begegnen und begegnen lassen. Diese Art von Begegnung, die sich dem Anderen in seiner Andersheit öffnet anstatt diesen besetzt, ist die Grundlage des Rechts. Arendts Recht, Rechte zu haben, könne allein diesen Abgrund bieten (ebd.). Die abgründige Freiheit und der Zusammenbruch libidinöser Objektfixierungen und -besetzungen sind konstitutiv für alle menschlich-sozialen Systeme – auch wenn man diesen Zusammenbruch in der Regel nicht als Zusammenbruch und Freiheit nicht als einen Abgrund wahrnimmt, sondern gar nicht (dieses Nächste wird nicht eigens registriert).
«Zueignung» (jenes volo ut sis) und «Eranderung» (das Ablassen von Aneignung, Besetzung, Instrumentalisierung, Kolonialisierung, Überzeichnung) ist eine Bewegung, die Gemeinschaft erst ermöglicht – aber nicht als ein sicherungsfähiges Gut: «Sie konstituiert keine Gemeinschaft, sie disponiert zu ihr.» (ebd., S. 355 f.) Diese Bewegung des Freilassens grundiert den Anerkennungswettbewerb des do ut des, des ich gebe, damit ich erhalte, und entbehrt in diesem Sinne der Reziprozität (der Gegenseitigkeit): Sie gehört nicht in die subjektkonstitutive Sphäre des Begehrens des Begehrens des Anderen, sondern ist eine Bewegung, die «in der doppelten Irreziprozität des Gebens» – also in einer bedingungslosen Selbstentäusserung – beruht (ebd., S. 356). Sie ist ein Geben, das «nicht an den Vorbehalt der Rückgabe oder der Gabe eines Äquivalents gebunden» ist, sondern mit dem «die blosse Existenz als blosse Existenz freigegeben wird» (ebd.). Existenz ist von anderer Anerkennung abhängig als das Rechtssubjekt; sie ist abhängig von der freilassenden, «vorausspringenden», Freiraum gewährenden, vertrauenden «Fürsorge» (Heidegger) des «Sei!»: «Die Existenz-Affirmation des ut sis ist der Anfang dieses pluralen Geschehens und bleibt es als Bewegung einer Vergemeinschaftung ohne deren Fortsetzung es eine Gemeinschaft nicht gäbe.» (Ebd., S. 357) Seinlassende Begegnung ist auch Grundlage des Rechtssubjekts, das sich selbst zu haben meint, sich dadurch auf die je erreichte Existenz versteift (Heidegger) und Existenz zu etwas Gegebenem macht. In der Grundstruktur ist sie aber eine Loslösung des Subjekts von Objekten: «Das ut sis ist mithin auch die Freigabe des Eigentums […]; die Befreiung der Rechtsperson und des Rechts insgesamt von der Obsession, das Eigentum seines Eigentums zu sein, und zugleich die Befreiung des Eigentums zu einer anderen Bestimmung als der, als Eigentum zu jemandem zu gehören, seine Befreiung zur Über-Eignung […]. Ut sis ist damit zugleich auch die Befreiung von einer Freiheit, deren Grund auf die Habe des eigenen Selbst beschränkt ist, zu einer Freiheit, die ‘ihren’ Grund nicht hat, sondern empfängt, verweigert oder dahingibt. […] Wer nur hat, […] ist von seinem Besitz nur besessen. […] Geben ist die Befreiung des Habens von und zu diesem ‘selbst’, und so erst die Eröffnung eines ‘selbst’.» (Ebd.) Dagegen sei das Recht auf das Haben und das Eigene fixiert und erzeuge so den «rechts- und menschenrechtsfreien Raum», «der sich mit dem Desaster der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts aufgetan hat. Dieses Desaster der Zivilisation und ihrer endogenen Barbarei gehört nicht der Vergangenheit an. […] Die strukturellen Totalitarismen expandieren, zum Teil ohne Namen, zum Teil unter anderen und mit anderen Leitideologien als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber […] sie bleiben – bei allen ernsten und weitreichenden Differenzen zwischen ihnen – allesamt an den Komplex aus Possessivismus und Juridismus fixiert […]. Es geht ihnen, […] mit der Schein-Generosität des Formalismus, um das Recht auf das Eigene […].» (Ebd., S. 358 f.) Existenz «hat kein Recht; die Existenz jedes Einzelnen ist vielmehr der vorrechtliche Anspruch an Andere, ebendiese Existenz zu bejahen» (ebd., S. 360) – also der Anspruch auf das Seinlassen des Seienden (das man selber ist). «Rechtsinstitute, allen voran diejenigen, die zur Durchsetzung und Wahrung von Eigentumsansprüchen bestellt sind», seien «immer wieder aufs Neue ihrer strukturellen Illegitimität zu überführen». «Erst mit dem Aufweis der Rechtsvakanz tut sich eine Rechtschance auf: die Chance zu so etwas wie dem Recht, Rechte zu haben.» Dieses ‘Recht’ «hat keinen Namen», es «hat nicht einmal ein definites Subjekt», und dieses «Subjekt des ‘Rechts’ […] kann also nicht anders als sich fortgesetzt zu indefinieren und sich indefinieren zu lassen» (ebd., S. 361): sich fortgesetzt nicht unter Kategorien und Bilder zu bringen und bringen zu lassen. «Es gibt dieses ‘Recht’ nur, wenn es die gibt, die sich seiner annehmen, die es übereignen und in der Bewegung des Gebens halten. Es ist, ohne je in irgendeinem konventionellen Sinn ein Recht sein zu können, eine Praxis – und vielleicht die Praxis schlechthin –, zunächst eine sprachliche für alles, was keine Sprache hat, jedes Mal singulär, jedes Mal anders, jedes Mal mit Anderen und ohne das Mit, das die Anderen zu den eigenen Anderen machen müsste.» (Ebd., S. 362).
Psychotischer Umbau der Realität
«Sie sehen Trump nicht mehr als Täter, sondern als Opfer einer teuflischen Verschwörung der Demokraten. Sie steigern sich dabei in eine wahre Hysterie. Am Tag des Impeachments im Repräsentantenhauses geht ein Mitglied der GOP gar so weit, die Anklage gegen Trump mit der Kreuzigung von Jesus Christus zu vergleichen. […] Was Trump erreicht hat ist komisch und furchterregend zugleich – und es wird kein gutes Ende nehmen.»
Staatsfanatismus steigerte sich während des Krieges in eine Art Trance. Totaler imaginärer Umbau der Realität endete im totalen Krieg. Heute verschafft sich dieser hysterische Wahn wieder Luft: Religiöse Fanatiker und Idylliker der Apokalypse verehren Trump als einen von Gott gesandten König. Eine ganze Gesellschaft kippt – im Mainstream vollzieht sich dies unbemerkt, weil dieser jenes Kippen selbst ist.
Freiheit und Krisis, S. 203 f.
Zu denken ist an phantasmatische Lichtgestalten, Fetische oder Idole wie ein Gottesbild oder bildhafte Vorstellungen, die man sich macht, wenn man – je nach Präferenz – an Seiendes wie «das souveräne Volk», «das Vaterland», «den Vater Staat», «die reine Rasse», «die abendländische Kultur», «die Gerechtigkeit» oder «die Menschenrechte» denkt. Solche Objekte des vorstellenden Denkens sind Signifikate (bildhafte Vorstellungen, geistige Bilder) von Herrensignifikanten (von Begriffen wie «Freiheit» oder «die Schweiz»), die durch Institutionen, einen Führer, Zeichen wie das Schweizerkreuz oder Allegorien wie die Justitia oder Helvetia verkörpert werden. Man möchte hier sozusagen ‹gegen oben› mit einem Objekt verschmelzen und von diesem aufgesogen, absorbiert und gehalten werden. Solche Objekte, die das Über-Ich und Freuds Kultur-Über-Ich bevölkern (und die Žižek «erhabene Objekte der Ideologie» nennt), ersetzen den fascinosum-Aspekt der ‹Objekt›-Hypostase des Absoluten (also das Pleroma).
Konstitutiv für solche tragenden Objekte ist der tremendum-Aspekt des Absoluten sowie dessen Projektion: «Wäre dem Führer wirklich die angestrebte Vernichtung aller Juden gelungen, so hätte er neue erfinden müssen, denn […] ohne den finsteren Juden hätte es nie die Lichtgestalt des nordischen Germanen gegeben» (Klemperer).
Freiheit und Krisis, S. 233
Verschiebung des Begründungsansatzes vom Anderen auf das Subjekt
«Der Lohn der richtigen Handlung liegt nun verstärkt in ihr selbst.»
Kurt Seelmann (Worin liegt die Würde des Menschen?, in: NZZ, 14.12.2019, S. 41) hinsichtlich Pietro Pomponazzi (1462–1525) und die «miseria hominis»-Literatur
Existenziale Analyse nimmt in den Blick, dass und inwiefern Lohn und Strafe «in der Handlung selbst liegen» (Wittgenstein). Sie nimmt in den Blick, was es heisst, wenn Cicero sagt, die schwerste Strafe erleide der Täter im Augenblick der Tat (hoc ipso). Die Strafe liegt in einem Gefängnis, in das wir uns selbst einschliessen, obschon wir dies gar nicht wahrnehmen. Sie liegt in der Abwehr der Freiheit – in der Rache am Absoluten – selbst: «‹Strafe› nämlich, so heisst sich die Rache selber» (Nietzsche). Nietzsche sagt hier aber gerade nicht, dass in der Rache eine Selbstbestrafung liegt, sondern dass sich Rache als gerechte Bestrafung ausgibt: Mit einem Lügenwort heuchle die Rache sich ein gutes Gewissen.
Freiheit und Krisis, S. 129
Freiheit und Krisis : Fascinosum («excellentia») et tremendum («miseria»)
«Es ist die Zwiespältigkeit von Endlichkeit und Selbstbestimmung, deren Verbindung Neues ermöglicht: Selbstbestimmung, begründet aus den Zwängen der Endlichkeit. […] Erasmus von Rotterdam […] empfiehlt, das Glück im Ertragen des Leides zu suchen […] und begründet damit […] das Bündnis unter Menschen und den Gemeinschaftssinn. Die Kooperation und das Wohlwollen werden so zur Folge der Unvollkommenheit. […] Montaigne findet […] wie Erasmus den Weg von dem sich seiner Misere bewussten Selbst zur friedlichen Beziehung der Menschen untereinander in der diesseitigen Welt, zum Spiegeln des Lebens im Leben der anderen, ebenso unvollkommenen Menschen. Erasmus und Montaigne gehen somit wie Pomponazzi von einer sehr speziellen Beziehung zwischen «miseria» und «excellentia» aus, in der die «miseria» geradezu als Mittel für das Erreichen der «excellentia» dient. Ja das Bewusstsein von der «miseria» des Menschen – und das Ziehen der Konsequenzen daraus – ist jetzt diejenige «excellentia», die es für ihn anzustreben gilt. […] Heute geht es uns sehr viel mehr um den Schutz der Menschenwürde als einen Schutz unserer Selbstachtung angesichts menschlicher Verwundbarkeit. Erst die Ambiguität von Misere und Exzellenz macht, dass wir einerseits instrumentalisiert, gedemütigt, unserer Selbstachtung beraubt werden können und dies andererseits zugleich als schlimmen Mangel erleben.»
Kurt Seelmann, a.a.O.
Das Gleichheitsgebot erweist sich in rechtsanthropologischer Hinsicht als abgeleitet von der Einzelfallgerechtigkeit (dem Hinsehen zum Nächsten): Erst aufgrund des Hinsehens auf das einzigartige, unverwechselbare und unvertretbare Erleben des Nächsten erkennen wir uns selbst stellvertretend im Nächsten und in fundamentaler Hinsicht als gleich: als gleich verletzlich, sterblich, ausgesetzt, frei. Der Philosoph John Dewey beschreibt das vereinzelte Gattungsbewusstsein als ein «die ganze Menschheit umfassendes Gefühl gemeinsamer Teilhabe an den unvermeidlichen Ungewissheiten der Existenz». Auf diesem anthropologischen «Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit» (Schleiermacher) und einem entsprechenden Selbstverständnis basiert auch das Gebot gemeinsamer Gestaltung der Verhältnisse, die politische Gleichheit (Demokratieprinzip). Demokratie ist nicht das Erste, sondern das Zweite. Vor der gemeinsamen Gestaltung der Verhältnisse steht das Ankommenlassen des Anspruchs des Anderen: Vox populi non est vox Dei. Demokratie als Staatsform ist nicht autoritäre Herrschaft der Mehrheit, sondern eine Kultur des Hinsehens und Hinhörens.
Freiheit und Krisis, S. 530 f.
Auch gemäss Adorno führt der Ausschluss des Realen oder des tremendum, welches er «Zone» nennt, aus dem Symbolischen zum menschengemachten Grauen. Adorno mahnt ein Erkennen und eine Anerkennung dieser «Zone» an: Es käme darauf an, sich «der zivilisatorischen Verblendungsmechanismen» zu entäussern, «die diese Sphäre immer wieder uns verhüllen». Moralität gründe darin, dass man dieses Traumatische nicht kollektiv verdrängt […]: «Wenn ich Ihnen sage, dass eigentlich der Grund der Moral heute in, ich möchte fast sagen: in dem Körpergefühl, in der Identifikation mit dem unerträglichen Schmerz beruht, so zeige ich Ihnen […] an […], dass die Moral […] fortlebt in ungeschminkt materialistischen Motiven; dass gerade also das metaphysische Prinzip eines solchen ‹Du sollst› […] Rechtfertigung eigentlich finden kann nur noch in dem Rekurs auf die materielle Wirklichkeit, auf die leibhafte, physische Realität […]. Genau das, – genau dieser Übergang […] der Metaphysik selbst in die Schicht des Materiellen, das ist das, was von dem einverstandenen Bewusstsein, was von der offiziellen Jasagerei jeglichen Schlages verdrängt wird. Als Kind, glaube ich, weiss man von diesen Dingen – in der trüben Art, in der man überhaupt als Kind solche Dinge weiss – noch etwas. Es ist das die Zone, die dann ja auch wirklich in den Konzentrationslagern buchstäblich sich herstellte; und von der man als Kind bei oft subliminalen Erfahrungen – der Wagen eines Hundefängers fährt vorbei oder solchen Dingen – die Ahnung hat: das sei das Allerwichtigste, darauf käme es eigentlich an […]. Und dieses unbewusste Wissen, dass das das Wichtigste sei, dass man es erkenne […]. Dieses Gefühl also: darum geht es; dieses, dass die armseligste physische Existenz, wie sie einem in diesen Phänomenen entgegentritt, mit dem obersten Interesse der Menschheit auf eine, ich würde sagen: bis heute noch kaum richtig durchdachte, nur eben angedachte Weise zusammenhängt […], und dass alles darauf ankäme, dass wir uns der zivilisatorischen Verblendungsmechanismen entäusserten, die diese Sphäre immer wieder uns verhüllen.»
Freiheit und Krisis, S. 362 f. (Zitat: Theodor W. Adorno, Metaphysik. Begriff und Probleme, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2006 [1965], S. 182–184)
Schwarzer Mann und weisse Frau
«Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und nur, weil wir nicht über Rassismus sprechen, heisst das nicht, dass es ihn nicht gibt. Vielmehr werden dadurch rassistische Handlungen normal. […] Muslimas* werden – nicht nur bei der SVP! – als Rückständige und Objekte in der Opferposition betrachtet […]. Diese Ansicht folgt einer kolonialen Logik, wonach – mit einer Adaption des bekannten Satzes von Gayatri Spivak – weisse Männer und Frauen braune Frauen vor braunen Männern retten.»
Meral Kaya, Rassismus am Frauen*streik, in: Neue Wege 12.19, S. 3 f.
Die Handlungsmacht der Frau sei zwar grundsätzlich verpönt, entspreche nicht der Norm und werde bestraft, so die Ökonomin Iris Bohnet. Dies gilt aber nicht für die schwarze Frau, die als Opfer des schwarzen, abgründigen Mannes figuriert wird und die ihre Stimme deshalb erheben darf: Schwarze Frauen und weisse Männer dürfen dominant auftreten, schwarze Männer und weisse Frauen nicht. «Identitäten summieren sich offenbar nicht immer, sondern überschneiden sich auf verschiedene Weisen, die die Forschung gerade erst aufzudecken beginnt.»
Als Repräsentanten des Kastrierenden dürfen sowohl der schwarze Mann als auch die weisse Frau ihre Stimme nicht erheben, denn nur so können sie als Projektionsfläche für die Ananke dienen.
Freiheit und Krisis, S. 273 f.
Diktatur der Mehrheit und des Hasses
«Dass erneut kein stichhaltiger Grund gegen die Einbürgerung Halilis vorgebracht war, bestätigte Frey indirekt. Zur bz meinte er: ‘Wenn der Kanton von uns eine Begründung für die Ablehnung verlangt, haben wir ein Problem.’ […] Unter dem Strich bleiben nur Verlierer: Nebst Halili eine tief gespaltene Bubendörfer Bürgergemeinde und letztlich auch das Kantonsgericht. Denn dessen Urteil wurde mit Hohn quittiert, indem Halilis Gesuch wieder ohne Begründung abgelehnt wurde. Offen bleibt die Frage: Woher kommt all der Hass […]?»
Wenn die AfD für Deutschland mehr direkte Demokratie fordert, meint sie solche Diffamierungs- und Hasskampagnen. Volksverhetzung gibt sich als Demokratie. Hinter der Forderung von AfD und NPD nach Volksabstimmungen stecke der Kampf gegen Minderheiten, so Jürgen P. Lang. Mit Recht und Demokratie hat dies nichts mehr zu tun.
Freiheit und Krisis, S. 409 f.
Analytische Philosophie
«Lieblingsfeindbilder waren natürlich Hegel und Schelling, Nietzsche und Heidegger und die französische Philosophie. Letztlich waren das philosophische „Scharlatane“, Täuscher und Schlangensalbenverkäufer, Antiaufklärer.»
In der Zeit nach Marx konnte sich das Denken über das Absolute – von der Theologie einmal abgesehen – nur in der philosophischen Phänomenologie erhalten. Auf diese setzte Heinrich Barth seine Hoffnung hinsichtlich einer neuen Aufgeschlossenheit gegenüber der Sinndimension (der psychischen Dimension) – sie konnte sich aber nicht durchsetzen: Die phänomenologisch-hermeneutische, existenzial-ontologische, aber auch psychoanalytische Herangehensweise ging Ende der 1960er-Jahre vollends im szientistischen, empiristischen und positivistischen Mainstream unter. Die akademische Philosophie findet in «mikroskopischen Sprachspielanalysen» (Christoph Carioli) eine neurotische, transzendenzvergessene Ersatzbefriedigung.
Freiheit und Krisis, S. 297
«Auch die Rechtswissenschaften, als Beispiel, verfügen im Prinzip über eine reiche Tradition und ein ausgefeiltes Besteck, machen davon aber zusehends keinen Gebrauch.»
«Kontinentale Philosophen sind meist sehr schwer zugänglich. D.h. es braucht ein riesige Menge an Zeit bis man überhaupt einmal ein ordentliches Verständnis von der Materie hat.»
Sinnkritik ist ein Nachdenken über die ontologische Dimension des Menschen. Die existenziale Psychoanalyse gehört im Sinne von Schellings «Sphärentrennung» zur Sinnkritik: zur phänomenologisch-hermeneutischen «Kontinentalphilosophie», zu Ricœurs «Hermeneutik des Heiligen». Sinnkritik kommt aber nicht ohne Ideologiekritik aus, nicht ohne Ricœurs «Hermeneutik der Archäologie».
Freiheit und Krisis, S. 301
«Ich meine, dass eine Sympathie mit ‘Analytikern’ zu letzt eine Selbstlüge ist, wenn man philosophieren will. Hier herrscht leider ein institutioneller ‘Krieg’. Wie oft hörte ich die Geschichte von KontinentalPhilosophen, man könne doch auch ‘Analytische Philosophen’ an einem Institut anstellen, weil das auch seine Bedeutung habe. Nach drei Jahren gab es keine KontinentalPhilosophen mehr (vgl. mehr oder weniger Bochum). Die analytische Dogmatik ist ungeheuerlich.»
Sinnkritik ist ein Nachdenken über die ontologische Dimension des Menschen. Die existenziale Psychoanalyse gehört im Sinne von Schellings «Sphärentrennung» zur Sinnkritik: zur phänomenologisch-hermeneutischen «Kontinentalphilosophie», zu Ricœurs «Hermeneutik des Heiligen». Sinnkritik kommt aber nicht ohne Ideologiekritik aus, nicht ohne Ricœurs «Hermeneutik der Archäologie».
Freiheit und Krisis, S. 301
In den 1970er-Jahren «brillierte die internationale Psychoanalyse ein vorerst letztes Mal mit einer unerreichten Blüte der theoretischen Innovation nach Freud», so Robert Heim. Dabei hat es das Denken auch dort schwer, wo es zuhause ist, nämlich in der Philosophie. Die akademische Philosophie sei mutlos, harmlos und anpasserisch geworden: Es werde nur noch nachbearbeitet und ausdifferenziert, so der Philosoph Wolfram Eilenberger. Vorherrschend seien ein «wattiertes Denken» und eine weltfremde Flucht in die Analytische Philosophie. Der Philosoph Peter Bieri wirft der vorherrschenden angelsächsischen, sprachanalytischen Analytischen Philosophie – die sich in der Tradition des Empirismus und im Anschluss an die beiden Logiker, Mathematiker und Philosophen Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein skeptisch bis ablehnend zu metaphysischen Begriffen wie «Staunen», «Schock» oder «Getragensein» stellt – eine Verdrängung von Inhalten und die Überbetonung formaler Elemente vor, wobei heute teils eine Hinwendung zu Fragen der Metaphysik zu beobachten ist.
Freiheit und Krisis, S. 335 f.
Bezüglich der Grenzen des Sagbaren bemerkt Wittgenstein, dass der zweite Teil des Tractatus, den er nicht geschrieben habe, der wichtige sei, und Sinn seines Buches sei ein ethischer. Wittgenstein erweist sich nicht als der Positivist, als den ihn seine Anhänger (Baum: «Neopositivistenkirche») gern vereinnahmt hätten. Der frühe Wittgenstein setze zwar mit einer radikalen Sinnreflexion ein, «in der er die gesamte Weltwirklichkeit als sinnfreie Faktizität denkt», so Rentsch – doch dies geschehe «gerade nicht, um die religiöse Perspektive positivistisch und szientifisch zu eliminieren, sondern vielmehr, um diese Perspektive in ihrer Eigenart und Irreduzibilität zu verdeutlichen».
Freiheit und Krisis, S. 146
Wittgensteins «Ich-tilgender Solipsismus» (David Bell) gleicht Heideggers Konzeption des Menschen als In-der-Welt-sein (Freiheit), und seine Philosophie gleicht – wie diejenige Heideggers oder Adornos – der Negativen Theologie: «Die Philosophie des Tractatus ist eine moderne Variante der ‹negativen Theologie›, die immer schon die Unzulänglichkeit des menschlichen Sprechens über transzendente Phänomene reflektierte und daher die ‹docta ignorantia› – so bei Nikolaus Cusanus – als höchste Stufe der menschlichen Weisheit sah.» (Wilhelm Baum)
Freiheit und Krisis, S. 145
«‘Die Konventionalität und mangelnde Originalität durch Ausbildung maximal selbstreferentieller Spezialdiskurse’ – Das halte ich auch für eines der zentralen Probleme der gegenwärtigen akademischen Philosophie. Ein Kollege beschrieb das mal als ‘das Drehen eines bestimmten Schräubchens an einer großen Maschine um einige Millimeter in eine bestimmte Richtung’»
«Ich sehe als nächste Generation diese ganzen roboterhaften Typen mit Stanzargumenten und die ganzen Chalmers-Hipster, die über Spiegelneuronen diskutieren und mich verlässt der Mut.»
2020
Der neurotische «Diskurs der Universität» (Lacan)
«Die psychoanalytischen Konstruktionen zur Täterstruktur blieben Historikern aber eher unzugänglich.»
Klaus Theweleit, «Nachwort 2018/19», in: Männerphantasien, Berlin 2019 (Basel 1977/78), S. 1209–1278, S. 1217.
Der Neurotiker, der am Vernunft-Ich festhält, leugnet diese Selbstgenügsamkeit des Hasses, der Rache und des Bösen. Dem neurotischen Subjekt, das Legendre als «Juristen» und Theweleit als «Soziologen» und «Historiker» bezeichnet, ist laut Goldstein nicht zu helfen: «Wenn alle Verleumdungen widerlegt, alle Entstellungen berichtigt, alle falschen Urteile über uns abgewehrt sind, so bleibt die Abneigung als unwiderleglich übrig. Wer das nicht einsieht, dem ist nicht zu helfen.»
Freiheit und Krisis, S. 323
«Die Schreibweise des Buchs sucht nach einer Sprache, die die Verbindung zu lebendigen Körpern […] nicht kappt, wie die (zwangsneurotischen) ‘Gesetze’ des universitären Formulierens dies tun.»
Klaus Theweleit, «Nachwort 2018/19», in: Männerphantasien, Berlin 2019 (Basel 1977/78), S. 1209–1278, S. 1216 (über sein Buch).
Der Neurotiker kann und will sich nicht vorstellen, dass hinter dem Hass keine (Vernunft-)Gründe liegen, die sich einer erkenntnistheoretischen Herangehensweise erschliessen. Dementsprechend sei manifeste physische Gewalt unter den neurotischen Akademikern selten, so der Philosoph Daniel Tyradellis: Wissenschaftler meinen, keinen Herrschaftsdiskurs zu führen, und die Universität sei seit Descartes «nach dem Prinzip einer Zwangsneurose organisiert».
Freiheit und Krisis, S. 311
Der Hass genügt sich selbst
«Aggression gegen Fremdes […] findet ihre Bestätigung in sich selbst und fühlt sich daher gut an. Das darf man bei allem Klagen und Rätseln nicht übersehen: Es fühlt sich nicht nur gut an, klare Feindbilder zu haben, sondern erzeugt auch ein starkes Gefühl des Selbst. Die jubelnden Faschisten und Faschistinnen, von denen die BRD und die DDR einst angeblich befreit wurden, freuten sich nicht über ihre Existenzen als Ameisen, sondern jauchzten über die Kraft, die ihr Ich im großen Ganzen fand. Der “Stolz, Deutscher zu sein”, ist ein Zauberspruch aus jener Sehnsucht.»
«Der Hass genügt sich selbst. Der Antisemitismus braucht keine Gründe und keine Argumente.»
Freiheit und Krisis, S. 322
Dem autoritären Charakter geht es um das Töten
«All solche Äusserungen laufen auf Vertreibung und Mord hinaus. Sie werden praktisch durchgeführt, sobald jene, die sie äussern, die dafür ausreichende politisch-polizeiliche Macht in den jeweiligen Staatsgebieten haben. […] Faschismus […] ist eine Form gezielter Kriminalität. […] Im angestrebten diktatorisch regierten Staat wird […] die offene Kriminalität dann jeweils Rechtform; dann Rechtsnorm.»
Klaus Theweleit, «Nachwort 2018/19», in: Männerphantasien, Berlin 2019 (Basel 1977/78), S. 1209–1278, S. 1223 f. über Äusserungen von AfD-Mitgliedern
Dagegen läuft Lacans Begehren, dem es um die Beseitigung des Mangels geht und das auf das obszöne Geniessen zielt, auf das Töten hinaus: auf die Vernichtung von Ananke und Kenosis stellvertretend in Fremden und Schwachen. Die Beweggründe hinter ideologischer Rationalisierung und Verschlüsselung «lauten auf töten wollen», so Theweleit – und dies unabhängig von geschichtlicher und kultureller Situation: «Der rechte Mob will töten, überall auf der Welt.»
Freiheit und Krisis, S. 405
Summa lex (positiv): Hinsehen!
Die Funktion des Ombudsmannes ist die eines Übersetzers oder Näher-Bringers der (Teilnehmer-)Perspektive des Anderen: «[…] indem er zusammen einerseits mit den Rechtssuchenden und andererseits mit den Behörden je deren Blickwinkel einnimmt und ermisst und den Behörden die subjektive Erfahrung der Rechtssuchenden verständlich macht und umgekehrt das objektiv geltende Normensystem in die Alltagssprache der Rechtssuchenden übersetzt» (Louis Kuhn, 21.12.2019).
Positiv formuliert ist die summa lex das Gebot zur ‹Übernahme› der Teilnehmerperspektive des Anderen (Empathie, Mitgefühl, Offenheit, Begegnenlassen): «Du sollst den Nächsten in seinem Erleben und Erleiden begegnen lassen!» oder «Du sollst den Anderen in seiner radikalen Andersheit, Eigenständigkeit und Entzogenheit erkennen, anerkennen, sein lassen und auch befördern!» (Brežnás «Recht auf Fremdheit»). Das Recht hat dieser summa lex zu entsprechen. Es kann als System nicht selbst ein solches Hinsehen sein, das moralisch geboten ist, sondern lebt von Menschen, die Sinn in die Systeme bringen, indem sie hinsehen anstatt wegblicken (Irreduzibilität von Sinn auf Systeme). Umgekehrt ermöglichen Systeme, dass ein solches Hinsehen gelingt (dialektische Bezogenheit von Freiheit und System aufeinander).
Freiheit und Krisis, S. 525
Summa lex (negativ): Nicht wegsehen!
In ihrer Masterarbeit «Es erübrigt sich, auf weitere Ungereimtheiten einzugehen.» weist die Linguistin Miriam Zürcher auf «sprachliche Angriffe» in Asylentscheiden hin, mit denen eine «Distanz in der Beziehung» zu «Menschen in schwierigen Lebenssituationen» erzeugt wird. «Typen gesichtsbedrohender Sprechakte» in der Verwaltungssprache sind u. a. Marginalisieren, Bagatellisieren und Herabwürdigen. «Die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden des BFM [des Bundesamts für Migration] dreht sich um Werte wie Humanität, Ethik, Gerechtigkeit und Menschenwürde, was aber in den Asylentscheiden nicht zum Ausdruck kommt» (S. 8). «Die Analyse der Beziehungsgestaltung […] ergab, dass in zwölf von zwanzig Asylentscheiden gesichtsbedrohende Sprechakte vorkommen. […] In der Analyse konnte aufgezeigt werden, dass die Autorinnen und Autoren der Asylentscheide im Korpus tatsächlich nicht neutral und objektiv aus der Sicht des Amtes argumentierten, sondern ihre persönliche Einstellung zur asylsuchenden Person, dem von ihr Wiedergegebenem oder ihrer Art des Wiedergebens deutlich machten – und dies in einer Art, die für die Asylsuchenden ausgesprochen gesichtsbedrohend ist.» (S. 63) Sprachliche Mittel verraten die Einstellung der Sprecher (S. 64). Zürcher fragt: «Wie viel Empathie kann sich (oder gar: muss sich) das Amt leisten?» (S. 8)
Negativ (als Verneinung) und widerspruchstheoretisch (von der Pathologie her betrachtet) ist das höchste Gesetz (die summa lex) ein Verbot: ein Nein zum ‹Verschwindenlassen› von unverwechselbaren Individuen hinter Kategorien des Bedrohlichen oder Verächtlichen, um in ihnen eine Projektionsfläche für den tremendum-Aspekt der Freiheit zu gewinnen.
Freiheit und Krisis, S. 529
Die summa lex des «Sieh hin!» braucht auch institutionelle Vorkehrungen, damit dieser Imperativ gelebt werden kann. Um Menschen in ihrer unverwechselbaren, mitunter auch dramatischen Situation gerecht werden und sie an sich herankommen lassen zu können – denn dieses Betroffensein und Ankommenlassen des Anspruchs des Anderen bedeutet «Hinsehen» –, braucht es entsprechende Ressourcen für den «Einzelfall», etwa genügend Zeit. Anhand der behördlichen Praxis lässt sich die Dialektik von Subjekt und System zeigen, die ausschlaggebend dafür ist, ob sich das Subjekt dem Anspruch des Anderen öffnet oder verschliesst.
Freiheit und Krisis, S. 533
Der Übermensch («Flow», transcendere)
«Nietzsche dachte an einen höheren Menschen, der seine Taten und Worte nicht nach größtmöglicher Bequemlichkeit wählt […] Diesen Übermenschen setzte Nietzsche dem Trend entgegen, sich von sich selbst zu entfremden und nach größtmöglicher Gefälligkeit und Anpassung zu streben. Der Hang des Menschen zur Faulheit und Lethargie, so meinte er, verstärke das Verlangen, geführt zu werden und Teil einer gleichförmigen Masse zu sein. […] Die Kluft zwischen dem Menschen, wie er sein soll und wie er ist, ist [im Übermenschen, im Dionysischen] überwunden. Die Wirtschaft pickte sich diese Idee des Dionysischen heraus und nennt diesen Zustand ‘Flow’ […],ekstatisches Arbeiten […].»
Das «Über» von Nietzsches «Übermenschen» ist eher im Sinne des lateinischen trans (hinüber), transcendere (hinübergehen) zu verstehen, nicht im Sinne des lateinischen supra. Untergehen sei ein Hinübergehen, lässt Nietzsche seinen Zarathustra in Also sprach Zarathustra sprechen (Vorrede, 4: «Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde» und: «Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden»). Die englische Übersetzung «superman» sei die «falscheste aller nur denkbaren», so der Germanist Peter Pütz […]. Loick (2017, S. 205) spricht hinsichtlich dieser Verwechslung von trans mit supra von einem kapitalen Missverständnis, dem eine «übergrosse Mehrheit der Nietzsche-Forscher*innen» aufsitzt. Zarathustra stellt demnach einen Menschen (einen Idealtypus, einen Heiligen) dar, der nicht mehr gegen ‹seine› Kenosis, ‹sein› ontologisches Untergehen, und nicht mehr gegen die Ananke, das ontologische Verschlungenwerden, rebelliert, rebellieren muss oder rebellieren kann. Zarathustra steht für die totale Desillusionierung, die einen befreienden, erlösenden Aspekt (das fascinosum) hat.
Freiheit und Krisis, S. 333 f. (Fn. 857)
Vergleichswahn, Anerkennungswettbewerb und Konformität: «Wüste»
«Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überall hin schielt.»
Friedrich Nietzsche, «Unzeitgemässe Betrachtungen», in: Werke Bd. I, hg. von Karl Schlechta, München u. Wien 1980, S. 133–434 (und dort: «Drittes Stück. Schopenhauer als Erzieher», S. 287–365), S. 288.
Die Gesellschaft Wiens zur Zeit von Sigmund Freud «klammerte sich überwiegend an überkommene Konventionen, die Sicherheit und Geborgenheit suggerierten», und Visionäre wie Freud, die an dieser Normalität rüttelten, standen, von «Ressentiments bedroht, etwas ausserhalb der Gesellschaft» (Egbert Hiller, «Zwölftontechnik und Psychoanalyse», in: www.deutschlandfunkkultur.de, 09. 12. 2018 [14. 12. 2018]). Fuchs spricht hinsichtlich der «Nichtgesellschaftlichkeit der Fähigkeiten des Genies» von einer «Konventionsdurchschossenheit des Erwachsenenlebens» (Luhmann und Fuchs 1989, S. 149).
Freiheit und Krisis, S. 218 (Fn. 543)
«Wie groß muss der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten […]».
Friedrich Nietzsche, a. a. O., ebd.
Kranke sehen sich nicht selten genötigt, ihre Krankheit zusätzlich – und entsprechend den herrschenden Vorstellungen von Krankheit – zu inszenieren (zu ‹performen›), um noch als krank (und nicht als «Scheininvalide») zu gelten, und genötigt, sich dadurch selber zusätzlich zu behindern. Erst durch den Selbstausschluss könnten sich Schizophrene wieder sozial integrieren, so Rufer: indem sie sich als psychisch krank definieren und so selbst aus der Normalität herausnehmen. Das Aussergewöhnliche gilt als normal, wenn es als krank gilt.
Doch auch Genies, die überhöht statt erniedrigt werden, fungieren als Repräsentanten des gesellschaftlich Verdrängten. Das Aussergewöhnliche wird als das schlechthin Unverstehbare integriert in eine Normalität, die nicht beunruhigt werden will. Schizophrene wie Visionäre sind aus der Normalität ausgeschlossen durch Einschluss als abnormal. Schizophrene wie Genies leben vorgeblich in Welten, zu denen ‹Normale› keinen Zugang haben. Der späte Heidegger bediente diese gesellschaftlichen Wünsche, wonach das Aussergewöhnliche Sache von wenigen Visionären sei – in dieser «exzellenzethischen», aristokratisch-elitistischen Sichtweise gleicht Heidegger Nietzsche: Gewöhnlichen bleibe der Zugang zum Sein verschlossen. Das Sein erscheint, derart verklärt, als eine kryptotheologische, quasi-mythische Instanz, die sich nur wenigen Zukünftigen zeigt.
Freiheit und Krisis, S. 218 f.
Auf der Suche nach einem dunklen Realen in uns drinnen liegt umgekehrt die Gefahr einer dezisionistischen Selbstreferenzialität, eines letztlich narzisstischen Subjektivismus und der Selbstgefälligkeit als Genie, das sich zum Abgründigen vorwagt, so Lipowatz mit Blick auf Žižek.
Freiheit und Krisis, S. 490
Anthropologie und Universalität des Faschismus
«Eine universelle Typologie? ‘Ja’, sage ich mehr denn je. Bloss ist ‘Typologie’ nicht das richtige Wort. Es handelt sich um vergleichbare Phänomene zerstörter Körperlichkeit die – in allen Kulturen, die wir kennen – männliche Körper […] dazu bringt, im Zustand eigener Erregung, für die sie keine zivilisatorisch gewachsenen Abfuhr- oder Umwandlungsmöglichkeiten finden […] die eigenen (unerträglichen) Spannungen dadurch zu löschen, dass sie die Körper anderer zerstören, in Blut ertränken, mit Sperma salben und mit Scheisse bedecken, um in solcher Abfuhr den eigenen fragmentierenden Körper, dessen rasende Emotionen sie zu verschlingen drohen, daraus zu retten und neu zu panzern als Überlebenden; als Ü-Figur, die im Tötungsakt eine momentane, erlösende Ganzheit erfährt; ihr vorübergehendes Heil-Sein. Überlebensakt, der auf Wiederholung angelegt ist bis hin zur Süchtigkeit. Nicht Todessehnsucht, sondern Sucht des Tötens. Friedmann Hahn ist eng an dieser Wahrnehmung, wenn er mehrmals in seinem Buch das Gefühlsleben dieser Männer zusammenfasst in der Formel: sangue et merde.»
Klaus Theweleit, «Nachwort 2018/19», in: Männerphantasien, Berlin 2019 (Basel 1977/78), S. 1209–1278, S. 1233–1236.
In ihrem Ausgesetztsein und ihrer Abwehr des Ausgesetztseins sind alle Menschen gleich. Gleichzeitig sind sie einzigartig, unvertretbar – gerade auch in ontologischer Hinsicht (Heidegger: «eigenstes» Sein oder Seinkönnen). Ausgehend von dieser Einzigartigkeit jedes Menschen wird gesagt: «Jeder Mensch ist anders». Die ideologische Verdrängung, die in dieser Aussage liegt, wird leicht übersehen. Sinn dieser Aussage ist immer auch: Es gibt keine Anthropologie, es lässt sich nichts Allgemeingültiges über den Menschen und seine Psyche sagen.
Dies ist wohl auch oft Sinn der Aussage, dass es sich verbiete, menschliche und soziale Phänomene ahistorisch zu denken. Benjamin stellt sich gegen solche Verdrängung: Es verbiete sich, Geschichte atheologisch zu denken – also losgelöst vom Sinn, den wir gemäss Wittgenstein «Gott» nennen können. Fremdenfeindlichkeit ist ein ahistorisches, ‹ewiges› Phänomen, das in allen Kulturen und Epochen anzutreffen ist, die einen Begriff vom Individuum haben. «Angst vor Fremden ist eine Grundstruktur aller Gesellschaften», so der Historiker und Autor des Buches Die Aussenseiter Philipp Ther. Der Umgang mit Sinn im menschlichen Handeln prägt sich in anderen Kulturen und Zeiten nur anders aus: Jedes Zeitalter habe seinen eigenen Faschismus, so der italienische Schriftsteller und Holocaust Überlebende Primo Levi.
Vom menschlichen Abgrund und davon, was dieser mit den Menschen macht, ist in den Wissenschaften nicht die Rede. Jaspers spricht von einer «geistigen Selbstentleerung der Wissenschaften». Die neurotische Verdrängung von Transzendenz und Transzendenzbezug in den modernen Konfliktanalysen fällt als das Unheil, das aus der Welt kommt, auf uns zurück (Wiederkehr des Verdrängten).
Freiheit und Krisis. S. 231 f.
Aversion des Faschismus gegen die Ananke, das Verschlingende, den «Sumpf»
«Was es aus 1920 zu begreifen gäbe? […] man könnte begreifen und erfahren, wenn man sich auf das Studium der Eigenheiten faschistischer Sprache einlässt, dass Wörter und Begriffe dort sehr oft nicht sagen, was sie zu sagen scheinen, und daraus lernen, bestimmte Bezeichnungen zu meiden; zum Beispiel das Wort ‘Sumpf’. Daraus lernen, dass, wenn man(n) vom Sumpf schreibt, vom bohemistischen oder vom Sumpf der Drogenszene oder von welchem Sumpf immer – dass man(n) damit von Zonen des weiblichen Körpers schreibt. Zonen, vor denen man(n) sich ängstigt; Zonen, die einen zu ‘verschlingen’ drohen; Zonen, die den Mannkörper in Panik versetzen, sodass er nach Trockenlegung solcher ‘Sümpfe’ ruft. Was impliziert: die entsprechenden Weiblichkeiten töten.»
Klaus Theweleit, «Nachwort 2018/19», in: Männerphantasien, Berlin 2019 (Basel 1977/78), S. 1209–1278, S. 1253
Die Frau dient dem autoritären Charakter als Projektionsfläche für alle Aspekte und Hypostasen der ontologischen Freiheit. Als ‹Urmutter› fungiert die Frau als Platzhalterin für das namenlose Verschlingende (Ananke). Als ‹Heilige› symbolisiert sie das ‹Lichtermeer› (Pleroma). Als glänzendes «Totalobjekt» (Agalma, Lacans «Objekt klein a»), das sich einverleiben lässt, respektive als «Ding» (Lacan) oder «Partialobjekt», das zur eigenen Vollständigkeit noch fehlt, ist die Frau Symbol eines Glücks, das noch aussteht respektive nicht gewählt wird (Ekstasis). Und als Verletzliche, Vulnerable symbolisiert sie das ontologische Untergehen, das der autoritäre Charakter verachtet (Kenosis, Lacans und Sartres «Mangel-an-Sein»). Je nachdem erscheint sie in dieser Reihenfolge als eine allwissende, dunkle und verschlingende Erdgöttin, als strahlende, unnahbare, entzogene Heilige, als luxuriöses Gut, das man sich einverleiben kann, oder als dreckige Hure.
Freiheit und Krisis, S. 96 f.
Bei der Frauenfeindlichkeit gehe es um Macht und Interessen, lautet die Formel. Die tiefenpsychische Motivation gerät dabei nicht in den Blick. Mit gesellschaftlichen Verteilkämpfen hat Frauenfeindlichkeit jedoch wenig zu tun: Die Emanzipation der Frau gefährdet die Abwehr namenloser Vernichtungsangst und bedroht den autoritären Charakter im Kern seines hybriden Seins. Daraus resultiert eine tiefe Abneigung des autoritären Charakters gegen die Emanzipation der Frau.
Freiheit und Krisis, S. 269
Von der Flora zur Seinsphilosophie
«Seine naturwissenschaftlichen Prinzipien waren immer: ‘Die Fähigkeit des differenzierenden Sehens’ bei jeder Gelegenheit üben; weder den Suggestionen der Begriffe noch der Bücher erliegen; vielmehr alles ‘an Ort und Stelle’ beobachten; immer von den Singularitäten ausgehen, was alle Lebewesen ja auch sind; und nie vergessen, dass die Beschreibungen von systematischen Einheiten weit ‘hinter der Merkmalsfülle der sie repräsentierenden Exemplare’ zurückbleiben.
Im wissenschaftlichen, auf Beherrschung zielenden Denken hat sich gemäss Hans Kunz aber auch «das betrachtende, das Seiende hinnehmend-bewahrende Element durchgehalten»; dieses Element bleibe aber «als ein eher den Dilettantismus bestimmendes und daher geringschätzig behandeltes Motiv im Hintergrund versteckt» […]. Kunz spricht mit Blumenberg und Adorno von einer «Unterjochung des Seienden unter die Methoden» […]. Wissenschaftliches Denken beruhigt in rational begründeter Weise darüber, worüber auch das Irrational-Abergläubische beruhigt: über Ereignisse, die die Macht des Menschen entmächtigen.
Freiheit und Krisis, S. 464, Fn. 1188
Wahnwelten
«Die Grundfrage seines Hauptwerkes lautet: Warum hat der Mensch dieses merkwürdige Verlangen, quer zur einzigen realen Welt imaginative Welten zu entwerfen: Bildwelten, Gedankenwelten, Sprachwelten, Vorstellungswelten, Traumwelten, Wahnwelten?»
Gemäss Bloch steht – «um des ‹Reichs der Freiheit› willen» – ein zweiter Akt der Aufklärung an, eine unbanale und unterirdische Gottlosenbewegung: «Empfindlichst gegen das Imaginäre, doch ebenso für das so Subversive wie Transzendierende, gerade ohne Transzendenz darüber» […]. Von dieser hermeneutischen Wende (auch des Denkens) ist heute nichts mehr übrig. Innerhalb der Wissenschaft fehlt der Mut, Theorie (verstanden als Transzendenzreflexion) auf den Alltag und die Politik herunterzubrechen, und der Mut, Pathologisches als pathologisch zu bezeichnen – so wie es bspw. Adorno noch tat, auf den man sich sonst oft und gerne beruft. Aus dem Fenster des Elfenbeinturms lehnen sich nur wenige. Den Medien fällt es dann leicht, diese wenigen Lauten als Exoten hinzustellen, ihre Positionen zu skandalisieren und sie dem vulgären Ressentiment zum Frass vorzuwerfen.
Freiheit und Krisis, S. 200, Fn. 493
Sein zum Tode: Das Un-zuhause der Freiheit
«Der virtuelle Tod ist der mögliche, immer noch ausstehende, aber ‘inständige’, d.h. in unserer Mitte innseiende Tod, von dem wir mit absoluter und apriorischer Bestimmtheit wissen, dass er in unseren faktischen Tod münden wird. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, für das der tod sich derart in eine Zweiheit gabelt: in den durch das ganze Leben inständigen, möglichen Tod und in den unerfahrbaren, ‘endständigen’ und faktischen Tod. Im faktischen Tod entgleitet uns alles Seiende, und unsere Seinsart schlägt um aus dem Dasein in das blosse Vorhanden-Sein. Im Wissen des inständigen Todes liegt auch das Wissen um die Unentrinnbarkeit dieses Entgleitens alles Seienden und damit der Welt. Wir sind insofern in der Welt nie ganz zu Hause, obwohl sie unser einziges gemeinsames Zuhause ist.»
Der Psychotiker steht besonders betroffen – also gerade nicht gleichgültig – vor seiner Freisetzung ins Un-zuhause der Freiheit.
Freiheit und Krisis, S. 206
Die offene Gesellschaft hat keine Krise, sondern sie ist eine Krise
Weil sie das Individuum ins Un-zuhause der Freiheit aussetzt, führt die offene Gesellschaft die Flucht in illusionäre Sicherheit als einen Kollateral- schaden mit sich: Die Krise, welche die offene Gesellschaft ist, kann gemäss Meyer trotz der «Grundsituation sozialer Sicherheit Anlass zu Flucht in die selbst gemachten kulturellen Sicherheiten des Fundamentalismus werden».
Freiheit und Krisis, S. 305 f.
In abgeschwächter Form wird der Einbruchdiebstahl oft als traumatischer Einbruch eines Namenlosen ins Gewohnte erlebt: als ein Einbrechen des «Un-zuhause» (Heidegger) der Freiheit ins Zuhause der Unfreiheit. In dem Masse, wie er traumatisiert, ist der Einbruchdiebstahl eine gewaltsame Freisetzung des Subjekts, die nicht als Befreiung registriert und angenommen, sondern nur als Verletzung (Beschämung) erlebt werden kann. Die Erfahrung, Opfer eines Einbruchdiebstahls geworden zu sein, raubt eine imaginäre Sicherheit, an die wir uns klammern, um nicht frei – sprich: um nicht ontologisch ausgeliefert, ausgesetzt, verletzlich – sein und uns haltlos fühlen zu müssen. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger bringt die Entfremdung auf den Punkt, die in der Flucht vor dem Un-zuhause der Freiheit liegt: «Wer ist fremder, ihr oder ich? Der hasst, ist fremder als der gehasst wird, und die Fremdesten sind, die sich am meisten zu Hause fühlen.»
Freiheit und Krisis, S. 80 f.
Freiheit: Hinsehen und Hinhören
«Frei sein bedeutet, Verantwortung auszuüben. […] Frei sein verlangt, die eigenen Sinne einzusetzen. Zu hören, zu sehen, zu fühlen, zu riechen.»
Diese Offenheit des Hörens – das Hinhören und Hinsehen zum Nächsten – ist auch Sinn des Rechts.
Freiheit und Krisis, S. 368
Freiheit hat oder trägt oder ‹sein-t› den Menschen, sie ist verbum externum. Sein (Hinsehen, Öffnung) und Sollen («Sieh hin!», «Begegne!») koinzidieren, und erst diese Koinzidenz bringt den Sinn ins Rechtssystem. Seinem Sinn nach will dieses umgekehrt Offenständigkeit, Vertrauen und Verletzlichkeit ‹erzeugen›. Sinn und Bekenntnis des Rechts ist die Koinzidenz von Sein und Sollen, der offene Geist. Ohne freie Menschen wüssten Rechtssysteme nichts vom Recht. Der Rechtssinn geht nur im Menschen auf, nie in Systemen oder Kollektiven.
Freiheit und Krisis, S. 500
Hinsehen auf das Wegsehen
«Musik lässt uns diese Art Freiheit spüren. Aber Musik ist kein Ersatz, kann kein Ersatz sein. Nicht für Wahrheit, nicht für Politik, nicht für Zwischen- und Mitmenschlichkeit. Sie kann kein Ersatz dafür sein, Rassismus Rassismus zu nennen. Sie kann kein Ersatz dafür sein, Frauenhass Frauenhass zu nennen. […]. Dinge beim Namen zu nennen, wenn bezwingende Dringlichkeit es gebietet. […] Wir müssen politisch und gesellschaftlich erwachsen werden. Nicht in Floskeln reden, nicht einfach nur Wunschdenken formulieren, sondern Realitäten, so hart sie sein mögen, klar benennen. […] Es geht um Charakterstärke, Würde und einen Sinn dafür, was richtig ist und was falsch ist, um Verantwortungsbewusstsein und Aufrichtigkeit. Dieses Verständnis von Mensch und Würde ist kein rechtliches, kein verfassungsrechtliches. Sondern ein moralisches. Selbstverständlich steht es nicht im Widerspruch zu der Ankernorm des Grundgesetzes oder entsprechenden geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen anderswo.»
«Hinsehen!» heisst nach der Ethik der Psychoanalyse auch Hinsehen auf das Wegsehen, auf die Abwehr und den Hass (zweites Gebot der Ethik der Psychoanalyse).
Freiheit und Krisis, S. 532
Mit Volksinitiativen wie der Minarett- oder Burkaverbotsinitiative werden mächtige Feindbilder aufgebaut, die der Abwehr der Freiheit dienen. […] Die ‹Sachfragen› sind vorgeschobene Rationalisierungen des Hasses, die auch die Initiativgegner für bare Münze nehmen: Die Gegner diskriminierender Volksbegehren agieren häufig mit, indem sie das Vorgeschobene nicht als das Vorgeschobene bezeichnen und den Hass hinter dem Vorgeschobenen nicht beim Namen nennen. Die Beweggründe hinter der vorgeschobenen Rationalisierung «lauten auf töten wollen», so Theweleit.
Freiheit und Krisis, S. 409
«Normative Obdachlosigkeit»
«Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, heißt es im Artikel 1 des Grundgesetzes. Ein Anspruch und ein Ideal, geboren aus den Schreckenserfahrungen von Holocaust und Weltkrieg. Aber die Diskrepanz zu unserer Realität ist krass. Verfassungsnorm und Lebenswirklichkeit klaffen auseinander. […] Wir befinden uns mitten in einer massiven Normverschiebung innerhalb unserer Demokratie, die nicht mehr dieselbe sein wird, wenn wir es geschehen lassen, dass Antisemitismus, Rassismus und Frauenhass immer weiter Raum gewinnen, wenn die digitale Meute angeführt von ihren intellektuellen Leithammeln Menschen zu Freiwild erklären kann, Treibjagden erst auf Twitter und Facebook und dann auf unseren Straßen angezettelt werden und den virtuellen Shitstorms reale Zerstörung von Lebenswirklichkeiten und Biographien folgt. Erst die Sprache, dann die Tat. Erst das Internet, dann die Straße. Erst der fiktive, dann der tatsächliche Mord. Das ist nicht Theorie.»
Mit der Realitätswahrnehmung, die wortwörtlich verrückt wird, werden die normativen, moralischen Massstäbe verschoben (shifting baselines). In imaginären Überflutungsphantasien wird ein Flüchtlingsnotstand auf hysterisch-delirierende Weise herbeiphantasiert: Menschen erscheinen als bedrohliche Dunkelgestalten und damit als Problem, nicht die Fluchtursachen. Folge sei eine «normative Obdachlosigkeit», so Welzer. Ins Rutschen gerate dabei der Rechtsstaat. Gewählt werde der Autoritarismus, nicht die offene Gesellschaft.
Freiheit und Krisis, S. 345
Volksverhetzung: Zerstörung der Sprache und der Realität
«Sprachgewalttäter sind Täter. Die gibt es in der Anonymität des Internets, aber sie sitzen auch im Deutschen Bundestag und in den Landtagen. […] Erst die Sprache, dann die Tat. Und aus den Echokammern des Netzes brandet Beifall auf. Völkischer Hass nimmt alles ins Visier, was ihm nicht passt. Einzelpersonen, Mitglieder der Zivilgesellschaft, ganze Bevölkerungsgruppen: Geflüchtete, Ausländer, Muslime, Juden, Frauen, Linke, Homosexuelle, Transsexuelle, Umweltaktivisten. […] Es wird gekränkt und gepöbelt, und von der Seitenlinie wird darüber ausdrücklich Verständnis zu Protokoll gegeben. […] Das Gift rechtsradikaler, völkischer Hetze verbreitet sich langsam und schleichend. […] Zugespitzt: Rechtsextremisten stürmen Synagogen, aber eigentlich sind Merkel und die Geflüchteten schuld. Lassen wir das zu, fallen wir darauf rein?»
Der wahnhafte Umbau der Realität durch die (Selbst‐)Lüge wirkt sich auf die Realität aus: Autoritarismus schaffe Raum zum Handeln, so der Journalist Constantin Seibt – und dies sei kein kleines Versprechen in einer Gesellschaft, die aus tausend Verträgen, Gewohnheiten und Abhängigkeiten besteht. Lügen sind Mittel zur Erzeugung einer imaginären Phantasiewelt, in welcher störende Tatsachen als Lügen des Gegners dargestellt werden oder – wenn es hochkommt – als blosse Meinung. Die Lüge zerstört zuerst die sprachlich-normative, konventionelle Wahrnehmung der Realität (die gemäss Nietzsche selber bereits unwahrhaftig und schönfärberisch ist) und dann die gegebene Realität selbst: «Die Lüge, schamlos angewandt, hat eine faszinierende Zerstörungskraft. Zunächst auf die Wahrnehmung. Dann auf die wirkliche Welt.» (Seibt)
Vertreter der offenen Gesellschaft agieren zum Schaden von Analyse und Emanzipation mit Autoritären und Fundamentalisten mit, wenn sie den psychotischen Umbau der Realität («Faktenfreiheit») sprachspielerisch-ideologisch als «Sorgen», «Ängste», «Meinung» oder «Dummheit» rationalisieren, auf eine Revolte gegen soziale Zurücksetzung reduzieren oder als instinktiv-triebhaft ‹irrationalisieren›.
Freiheit und Krisis, S. 343 f.
Freiheit = Wahnfreiheit
«Bei Hegel sind Freiheit und Vernunft immer verknüpft.»
«Haltung bewahren», «die eigene Stimme nicht verlieren» oder «kritikfähig bleiben» bedeutet – mit Löwith ausgedrückt – «inmitten der alles erschütternden Krisis den Standpunkt des freien Geistes zu wahren, um im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können».
Freiheit und Krisis, S. 536
Die wahren Relationen (Leibniz und Hegel: die «Wirklichkeit», Wittgenstein: «Wie sich alles verhält») transformieren sich sozusagen durch den Menschen hindurch und setzen sich als das Gute (Hegel: als «Vernunft») in die Welt.
Freiheit und Krisis, S. 154
Allonomie
Als Existenzmodus der Freiheit werden wir von diesen präreflexiv, präintentional und vor-prädikativ erfassten wahren Relationen, die nicht oder nicht nur relativ auf das Subjekt (also mehr als reine Objektbeziehungen) sind, gewissermassen gelebt oder ‹ge-sein-t› (Freiheit hat oder führt den Menschen). Hierfür fehlt ein treffender Begriff, dem nicht wie den Begriffen «Heteronomie» oder «Fremdbestimmung» eine negative Wertung anhaftet, weshalb der Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini den Begriff «Allonomie» eingeführt hat. In den Beiträgen zur Philosophie wählt Heidegger das neutrale Verb «ereignen»: Das Sein ereignet das Dasein. In der Theologie heisst es, Gott lenke den Menschen.
Freiheit und Krisis, ebd.
«Der rechte Mob will töten, überall auf der Welt.» (Klaus Theweleit)
«Hass geht auf Töten.»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 76
Der Mensch will aber töten, so Muschg, und dieses perverse Wollen ist dasjenige, was der Neurotiker verdrängt. Perversion nimmt Rache an der Endlichkeit des Lebens (an der Zeit) stellvertretend «an allem, was leiden kann» (Nietzsche).
Freiheit und Krisis, S. 311
Das [psychoanalytische] Tötungsverbot ist ein Nein zur imaginären Vernichtung des Nichtseins stellvertretend in Anderen. Ohne den «jüdischen Teufel», so Klemperer, «hätte es nie die Lichtgestalt des nordischen Germanen gegeben». Imaginäre Vernichtung bleibt nicht imaginär, sondern inkarniert, materialisiert und realisiert sich: zuerst in der Hassrede, dann im gesellschaftlichen Ausschluss, schliesslich in der Entrechtung bis hin zum Völkermord. Dieses ‹Töten› zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen in Konflikten, Politik und Alltag.
Freiheit und Krisis, S. 402
Die Beweggründe hinter ideologischer Rationalisierung und Verschlüsselung «lauten auf töten wollen», so Theweleit – und dies unabhängig von geschichtlicher und kultureller Situation: «Der rechte Mob will töten, überall auf der Welt.» Die Beweggründe, die den Hass mobilisieren, sind das Verschlungenwerden der Kenosis und das Verschlingende der Ananke: In den Hass treibe die «Angst des fragmentierenden Körpers vorm Untergang; vorm Verschlungenwerden von den umgebenden Realitäten».
Freiheit und Krisis, S. 405
LSD (Psychotomimetikum, Modellpsychose)
«Gerade bei Krebspatienten macht LSD eine Fokussierung auf die existenziellen Themen. Sie kommen dank LSD schnell zum Kernthema, und das ist oft die Angst vor dem Sterben […].» LSD ist kein Betäubungsmittel: «LSD ist eigentlich das Gegenteil. Die Substanz schärft das Bewusstsein, macht wacher und öffnet alle Sinneswahrnehmungen.» «LSD ist ungiftig.» «Ein Risiko besteht hingegen auf der psychologischen Seite. Etwa dass jemand im Rahmen einer Schizophrenie eine Psychose bekommt.» Tremendum oder fascinosum: «Die Substanz hat etwas Unberechenbares. Es gibt keine Garantie, dass man mit LSD schöne Erfahrungen macht.» «Viele Menschen machen mit LSD tiefe spirituelle Erfahrungen, und das macht in der Regel bescheidener und dankbarer. Da sehe ich schon ein Potenzial.»
Wenn ein Psychotiker ins Meer fällt, geht er unter. Wenn ein Mystiker ins Meer fällt, kann er schwimmen.
Freiheit und Krisis, S. 219
Gute Identitätspolitik
Identität spielt eine grosse Rolle, deshalb braucht es gute Identitätspolitik: «Gruppenzugehörigkeiten und soziale Differenzen spielen eine kaum zu überschätzende Rolle in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Alter, Religion, (Nicht-)‘Behinderung’ entscheiden mit über Gesundheit, Lebenserwartung, Chancen auf einen Job oder einen Mietvertrag. […] Die Unterschiede sind real. Sie entscheiden auch darüber, ob jemand als Allgemeines gilt – als [unverwechselbares, einzigartiges und unantastbares] Individuum mit einer Geschichte – oder als [blosses Exemplar einer Kategorie: als] ‘der Jude’, ‘die Frau’, ‘die Migrantin’, ‘der Behinderte’. […] Die Kritiker aber tun so, als spiele die soziale Positionierung gar keine Rolle für das, was gesagt wird. Es wird so getan, als brächten erst jetzt bestimmte Gruppen ihre Identitäten in den öffentlichen Raum, wo ansonsten völlige Neutralität galt. […] Um Gleichheit zu erlangen, musste die Differenz deutlich und sichtbar gemacht werden, musste gezeigt werden, dass Herrschaft und soziale Ordnung auf Gruppenzugehörigkeiten und sozialen Differenzen basiert. Es gehört zu den mächtigsten Herrschaftsmechanismen, dass ein bestimmtes Partikulares zum Allgemeinen wird, dass die Praxen, Erfahrungen und Deutungen einer spezifischen Gruppe sich durchsetzen als das, was ‘man’ ist, ‘man’ liest, macht, denkt, erlebt. Die ‘Anderen’ hingegen sind wesentlich als Abweichung markiert.»
Gegen das Verschwindenlassen des Begegnenden hinter Kategorien des Bedrohlichen oder Verächtlichen, um eine Projektionsfläche für das Abgründige der Freiheit zu gewinnen, richten sich das Diskriminierungs- und das Rassismusverbot ihrem existenzial-ontologischen Sinn nach. Beide Verbote sind – negativ, als Verbot – die höchste Rechtsnorm (summa lex): ein Nein zum Verschwindenlassen von Menschen hinter Kategorien. Summa lex ist – positiv, als Gebot – das «Begegne!» oder «Lass begegnen!». In dieser positiven Form findet die moralische summa lex ihren Ausdruck in der Einzelfallgerechtigkeit oder im rechtlichen Gehör.
Freiheit und Krisis, S. 274
Die Frage nach Name, Stand und Herkunft ist auch die Frage, die Lohengrin in Wagners gleichnamiger Oper verbietet, denn diese Frage bringt die Subjektivität des Begegnenden hinter Kategorien zum Verschwinden (sie macht liebesunfähig). Die Frage nach Name, Art und Herkunft ist eine, die sich dem offenen Geist nicht (oder anders) stellt. Für die geistige Offenständigkeit steht Pfingsten. Der Pfingstgeist (die Metanoia) ver-rückt den Menschen. Jeder versteht plötzlich jeden. Für das messianische, revolutionäre Begegnen und Sprechen sind alle Menschen in fundamentaler Hinsicht gleich (nah): Frauen, Männer, Freie, Sklaven, Juden, Griechen und Römer. Aber dieser Geist macht den Menschen auch verrückt: Er hat einen «abgründigen Schrecken» zur Kehrseite (Thomas Assheuer […]). Die Gebundenheit (Geworfenheit) des Menschen an unabänderliche Gegebenheiten wie Herkunft, Geschlecht, Vererbung oder Sozialisation bezeichnet Jaspers als «Grenzsituationen des Anfangs» […].
Freiheit und Krisis, S. 486 f., Fn. 1256
Ambivalenz von Offenheit (Resilienz) einerseits und Rebellion gegen die Unverfügbarkeit des Daseins (Vulnerabilitätsabwehr) anderseits
«Offenheit kann auch eine Demonstration der Stärke sein, der Anspruch, souverän öffentlich über die eigene schwere Erkrankung reden zu können. […] Sie ist aber auch eine ‘perfekte’ Antwort auf die immer weitgehenderen Ansprüche einer Leistungsgesellschaft, die nur wenig Raum für Schwäche, Krankheit und ‘unproduktive’ Pause lässt. So bleibt das Lob der Offenheit auch heute ambivalent.»
Dass Freiheit [Offenheit, Resilienz] in einem tätigen Ja liegt – dass sie eine ‹positive Lebenseinstellung› ist –, wird von der Positiven Psychologie aufgenommen, aber pervertiert: Das Ja zum Leben wird funktionalisiert und in den Dienst eines Machbarkeitswahns gestellt, den Strenger das «Just do it»-Prinzip nennt. Das Ja zum Leben wird hysterisch inszeniert und entpuppt sich als Nein: Die Kenosis wird stellvertretend in Scheiternden verachtet, und der Selbsthass, der darin zum Ausdruck kommt, wird mit der Rationalisierung verdrängt, dass den Scheiternden eine positive Lebenseinstellung, der Leistungs- und Erfolgswille fehle (Selbsthass-Abwehr): Wer scheitert, der sei selber schuld. Ihm müsse deshalb auch nicht geholfen – sprich: begegnet – werden. Ausschluss ist Strafe für das Scheitern, für den Verlust des Phallus (der Leistungsfähigkeit).
Freiheit und Krisis, S. 450
Hybris
«Es ist unmöglich über die einzige Geschichte zu sprechen, ohne über Macht zu sprechen. Es gibt ein Wort, ein Igbo Wort, an das ich immer denke, wenn ich über die Machtstruktur der Welt nachdenke. Es heißt ‘nkali’. Es ist ein Substantiv, das in etwa übersetzt werden kann als ‘größer sein als ein anderer’.»
Nietzsches «Zarathustra» verlässt erreichte Lebensstationen immer wieder, damit diese nicht zu gefestigten Positionen werden. Er verweigert die Idealisierung seiner eigenen Person, ruft damit zum «Vatermord» auf, entzieht sich als Übertragungsobjekt und durchschaut die Gegenübertragung als Versuchung zur Ich-Aufblähung («Du suchst nach grossen Menschen, du wunderlicher Narr? […] O du schlimmer Sucher, was – versuchst du mich?»). Die Figur Zarathustra entlarvt alle Formen des Idealismus als heuchlerisch und zertrümmert die erstarrte Normalität.
Freiheit und Krisis, S. 505
«Intoleranz gegenüber den Intoleranten!»
Peter Strasser über das Motto des wehrhaft Liberalen
Politik der Demarkation!
«Gewiss: Die staatlichen Institutionen in Deutschland sind gefestigt und stark genug, um eine verfassungsfeindliche Partei auszuhalten [?]. Aber die Menschen, gegen die Neonazis hetzen, sind es nicht: Sie sind verletzlicher als der Staat. […] Natürlich schaltet ein Verbot den Rechtsextremismus nicht aus. Weder der Rechtsextremismus noch der Rassismus verschwinden, wenn eine Partei, die ihn propagiert, verboten wird. […] Wer aber mit dieser Begründung auf ein Parteiverbot verzichtet, der könnte ja auch auf Strafgerichte verzichten: Auch Kriminalität löst sich mit den Urteilen, die Kriminelle bestrafen, nicht auf. Gleichwohl sind Strafurteile ein Beitrag gegen die Verrohung und für die Zivilität einer Gesellschaft. Es geht um die Solidarität mit den Schutzbedürftigen dieser Gesellschaft. […] Wenn Volksverhetzung Volkssport wird, darf der Staat nicht zuschauen und so tun, als könne man nichts machen, als sei das halt so etwas wie eine Gewitterfront, die schon wieder abziehen wird.»
Menschenfreundlichkeit darf nicht zur ideologischen Ausrede für fehlende Rassismuskritik und fehlenden Antirassismus werden. Klaus Theweleit stellt sich dezidiert gegen die Selbstlüge, man könne mit denjenigen reden, denen es gerade nicht um das Reden, Argumentieren und Zuhören geht, sondern im genauen Gegenteil um die Zerstörung von Sprache und um Ausschluss von Minderheiten aus dem demokratischen Diskurs zwecks Konstruktion einer wahnhaften Subjektivität und Identität. Reden müsse man mit denjenigen, die mit Argumenten und Gründen noch erreichbar sind. Hinsichtlich der Feinde des demokratischen Rechtsstaates und seines deliberativen, alle Menschen einschliessenden Diskurses, die unter Missbrauch der Sprache andere mundtot machen wollen, fordert Theweleit eine scharfe Demarkation (Ausgrenzung) und eine deutliche Sprache: «Ihr seid erklärte Feinde jenes demokratischen Systems, dessen Formate wir hier diskutativ repräsentieren. Und da gehört ihr nicht rein».
Freiheit und Krisis, S. 352
Selbsthass (Schamabwehr)
«Und der Hass auf Gefallene, auf Schwache und Kranke ist bei vielen die Angst vor dem eigenen Zusammenbruch. (…) Zu wissen, dass wir alle im Elend unserer Gebrechlichkeit vereint sind, könnte uns, gleich welcher ausgedachten Religion wir angehören, gegen den wirklichen Feind angehen lassen: den ungebremsten Kapitalismus, der das Schlechteste aus allen holt.»
Die vorliegende Analyse differenziert: Das Worüber des Selbsthasses ist die transzendente Existenz (die ‹Subjekt›-Hypostase der Freiheit). Gehasst wird das verletzliche, scheiternde, sterbliche, fundamental begrenzte und damit haltlose, abgründige Selbst stellvertretend in Schwachen, Bedürftigen, Vulnerablen (siehe den «Ersten Imperativ» unten in der Konfliktanalyse). Der Hass auf dieses Selbst (Selbsthass) wird ebenfalls stellvertretend in Schwachen abgewehrt (siehe den «Zweiten Imperativ»). Das ‹Wissen› darüber, dass man sich nicht selbst wählt (der Ruf des Gewissens), wird schliesslich stellvertretend in Intellektuellen abgewehrt, die die Selbstwahl (Karl Löwiths Wahnfreiheit) symbolisieren (siehe den «Dritten Imperativ»).
Freiheit und Krisis, S. 60, Fn. 110
In-der-Welt-sein (Wahrheit, Ἀλήθεια, Aletheia)
Die Philosophie der natürlichen Sprache versucht nicht, das Vorhandensein einer Welt zu beweisen, sondern setzt sie immer schon voraus. Sprachlogisch kann man vor jeden Primärsatz die Einleitung «Auf der Welt, die wir kennen, verhält es sich so, dass…» voranstellen, ohne dass sich irgendwas ändert. Die logische Sprache setzt also Welt voraus, aber sie erhebt nicht den geringsten Anspruch darauf, «die Welt» oder «die Wahrheit» als ein begriffliches Gesamtfaktum zu verstehen. Das Wissen um eine umfassende Wahrheit, als das Wissen um ein unbekanntes Land, das da draußen auf uns wartet, ist ein Ur-Moment der menschlichen Psyche. Jacques Lacan nannte dieses Moment die Stimme und den Blick. Damit hat er gemeint, dass wir, tief in unserem Unbewussten, an die Welt als an ein lebendes Wesen glauben, das uns in den Blick nimmt und zur Verantwortung zieht, und dies schon, bevor wir überhaupt zu sprechen anfangen. Obwohl ich weiß, dass es eine ganze Wahrheit geben muss, weiß ich, dass ich sie nicht werde als ganze Wahrheit erfassen können.
Ersatzbildungen des Absoluten finden sich nicht nur gehäuft in der ganzen Philosophie, sondern auch gehäuft bei einzelnen Philosophen. Bei Heidegger beispielsweise bleibt unklar, wie er die Begriffe «Freiheit», «Ereignis», «Sein», «Lichtung des Seienden», «Unverborgenheit», «In-der-Welt-sein», «Transzendenz des Daseins» oder «Wahrheit des Seins» (Ἀλήθεια, Aletheia) voneinander abgrenzt. Der Philosoph Walter Biemel bemerkt zu dieser Flut von Begriffen: «Sein – Lichtung – Wahrheit des Seins – aletheia (Unverborgenheit) sind dasselbe».
Freiheit und Krisis, S. 35
«Sein», das für Heidegger das transcendens (Transzendieren) schlechthin darstellt […], respektive das «In-der-Welt-sein» (Heidegger […]: «Transzendenz ist In-der-Welt-sein»), welches gemäss der psychoanalytischen Daseinsanalyse das Worüber der Todesangst ist – dieses Namenlose ist das neurotisch Verdrängte respektive psychotisch (auf Fremde, Schwache usw.) Abgespaltene. Namenlose Vernichtungsangst sei Kern des Unbewussten (Holzhey-Kunz […]). Transzendenz des Daseins und Freiheit sind identisch (Heidegger) – demnach ist Freiheit Kern des Unbewussten. Freiheit ist insofern nicht das ganze Unbewusste (nur Kern des Unbewussten), als auch noch unbewusst gemacht wird, dass überhaupt etwas unbewusst gemacht wird.
Freiheit und Krisis, S. 100, Fn. 205
Psychotischer Umbau der Realität (der logisch-referentiellen Wahrheit) / Zerstörung der Sprache
Was meinen Philosophen, wenn sie sagen, es gäbe keine Wahrheit? Meiner Erfahrung nach sagen sie das einfach nicht. Bestenfalls ziehen sie in Zweifel, dass Wahrheitsproduktion so stattfindet, wie wir glauben, dass sie stattfindet. Das zumindest ist es, was Foucault und Luhmann getan haben. Sie haben nicht den logisch-referentiellen Wahrheitsbegriff kritisiert, sondern sie haben kritisiert, dass der tatsächliche Wahrheitsapparat unserer Gesellschaft ein ganz anderer ist als der logisch-referentielle. Wie sehr das stimmt, sieht man an der aktuellen Klima-Debatte, die keine Debatte ist, sondern ein beleidigtes Mit-dem-Fuss-aufstampfen einer Majorität von Gewohnheitstätern auf der einen Seite und einer Minorität von Schülern und Wissenschaftlern auf der anderen, die Fakten wiederholen, die unglaublicherweise seit über 30 Jahren bekannt sind. Die Wahrheitsbegriffe aus den Sozialwissenschaften haben jedenfalls nicht den Sinn, logisch-referenzielle Wahrheit abzuschaffen. Konservative Think Tanks versuchen, mit Medientricks, den Eindruck zu erwecken, eine sogenannte kulturmarxistische Front versuche an den Universitäten genau das zu tun. Dass es innerhalb der Genderstudies auch radikale Tendenzen gibt, spielt diesen Leuten natürlich in die Hände. Dann gibt es irrwitzigerweise eine immer größere Anzahl von Neo-Konservativen, die entzückt zur Kenntnis nehmen, dass «es keine objektive Wahrheit mehr gibt» und ungehemmt «alternative Fakten» verbreiten. Was in den geschichtskritischen Forschungsfeldern der postkolonialen Studien und der Geschlechtswissenschaften vor sich geht, sind Untersuchungen darüber, wie scheinbar wissenschaftliche Methoden dazu benutzt worden sind, um Genozide und Unterdrückung zu rechtfertigen. Hier passiert genau das Gegenteil von Relativierung und Auflösung von Realität. Aus all diesen Gründen rollen sich mir inzwischen die Fußnägel auf, wenn ich immer mehr Menschen sagen höre, die Wahrheit gebe es nicht. Wenn jemand behauptet, es gebe keine Wahrheit, dann kann damit alles Mögliche gemeint sein, und es wäre schön, wenn die Leute, die solch Dinge sagen, sich genauer erklären würden, denn der Satz als solches kann alles und nichts bedeuten. Bestenfalls ist gemeint: Ich glaube niemandem, der mir eine Theorie oder ein Dogma auftischt, dass behauptet, ALLES zu erklären, denn eine solche Theorie kann es nicht geben. Dann: Herzlichen Glückwunsch. Sie haben die Aufklärung verstanden. Schlimmstenfalls: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Ich zünde meinen Nachbarn an und behaupte, er war ein außerirdischer Reptiloid. Wer soll mir das Gegenteil beweisen?
Flucht ins ‘Zuhause’ des Autoritarismus und haltgebender Bilder, Opferung des Verstands
«Das Antisemitische wird in geringen Dosen beigemischt, und wenn erst einmal das Reden von der jüdischen Gefahr konkret wird, dann bemerken es viele gar nicht, so sehr sind sie bereits in den Verschwörungstheorien zu Hause. Und wenn doch, dann haben sie womöglich bereits ihr altes Leben aufgegeben, die Freunde verlassen, genauso wie die Realität – und es gibt kaum einen Weg mehr in dieses alte Leben zurück, ohne das Weltbild erneut zu zerschmettern.»
In abgeschwächter Form wird der Einbruchdiebstahl oft als traumatischer Einbruch eines Namenlosen ins Gewohnte erlebt: als ein Einbrechen des «Un-zuhause» (Heidegger) der Freiheit ins Zuhause der Unfreiheit. In dem Masse, wie er traumatisiert, ist der Einbruchdiebstahl eine gewaltsame Freisetzung des Subjekts, die nicht als Befreiung registriert und angenommen, sondern nur als Verletzung (Beschämung) erlebt werden kann.
Freiheit und Krisis, S. 80
Verkehrung des «Werde, der Du bist!» (Metanoia) in Esoterik:
«Heiko Schrang hat es mit seinem zweigeteilten Weltbild geschafft, bis in die gesellschaftliche Mitte vorzudringen. “Sei heute einfach du selbst”, sagt der Mann mit sonnenbankgebräunter Glatze und beseeltem Lächeln auf seinem YouTube-Kanal, während er in einem lichtdurchfluteten Raum unter einem Buddha-Gemälde sitzt.»
Esoterik erweist sich als sentimental, kitschig, schwärmerisch, hysterisch, schönfärberisch und vor allem «als unsolidarisch, antirational und autoritär» (Tomkowiak). An diesen Eigenschaften ist die esoterische Pervertierung der Psychologie auch zu erkennen. Dass psychisches Erleben und Leiden mit Wahrheit und Wahrheitsbezug, Sinn und Sinnbezug zusammenhängen, kann umgekehrt die (Kultur‐)Wissenschaft nicht begreifen. Die gefährliche Nähe von Psychologie, Psychoanalyse sowie Theologie einerseits und Faschismus, Esoterik sowie Schein-Ekstasis anderseits ist auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, den Bloch als «Wärmestrom» bezeichnet. Dieser steht im Gegensatz zum neurotischen «Kältestrom», der nur Fakten gelten lässt und das Subjekt aus den Augen verloren hat.
Freiheit und Krisis, S. 225
Ganz normale Männer
«Der Normalfall des Tötens muss ausgerufen werden. Er ist dann sogleich und ohne alle Hemmungen da.
Es ist daher ganz ‘selbstverständlich’, dass es immer ‘ganz normale Männer’ sind, die die Ermordungsorgien durchführen; das Erreichen der Homöostase [i. e. Spannungsausgleich, Anm. M. B.] durchs Töten. Sie erfüllen damit das Grundgesetz ihrer jeweiligen Gesellschaftsgebilde oder ‘Kulturen’; sei das der Ostkongo, Afghanistan, Guatemala, Ruanda, Syrien, Irak, die Gefängnisse und Straflager der britischen wie amerikanischen Armee oder ihrer Geheimdienste; seien es Deutschland und Österreich, die bis vor siebzig Jahren einen Spitzenplatz in den erlaubten Ermordungs- und Ausrottungsaktionen einnahmen – exzessiv lachend; dann entspannt lächelnd.
‘Ganz normale Männer.’ Es ist geradezu lachhaft, wie eine Reihe von Autoren – die Experten Browning, Goldhagen, Kuhl oder Welzer – das als grosse Erkenntnis ausgeben. Wo leben die – auf dem Mond?»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 91 f.
Die Beweggründe hinter ideologischer Rationalisierung und Verschlüsselung «lauten auf töten wollen», so Theweleit – und dies unabhängig von geschichtlicher und kultureller Situation: «Der rechte Mob will töten, überall auf der Welt.»
Freiheit und Krisis, S. 405
In Bürgerkriegen werden «ganz normale Männer» zu sogenannten Bestien. «‹Ganz normale Menschen› waren in der Lage, grausamste Verbrechen zu begehen und später wieder mühelos ‹ganz normale Menschen› zu sein», so die Historikerin Svenja Goltermann. Im Mordrausch wird der Tod imaginär besiegt. Der Regisseur und Soziologe Milo Rau spricht bezugnehmend auf Klaus Theweleit von einem «Gefühl von Unverwundbarkeit» in einem Zustand rauschartiger «Schizophrenie». Der Täter inszeniert sich auf psychotische Weise als Ananke. Das Opfer wird als Kenosis inszeniert und auch in diese geführt. Die phantasmatische Vernichtung des Nichtseins verwandelt sich in Realität und in das Reale für den Anderen.
Freiheit und Krisis, S. 262
Gemäss dem Schriftsteller Adolf Muschg «stimmen die einfachsten Grundannahmen» über den Menschen «nicht: dass er ungern hasse oder nur aus Not töte; dass Menschlichkeit normal sei».
Freiheit und Krisis, S. 263
«Die Willfährigkeit grosser Bevölkerungskreise in Diktaturperioden wird deshalb nachträglich oft als einmalige Krankheit oder als schlechthin unbegreifliche Verirrung hingestellt.» Das Staunen darüber, dass das Monströse sich immer wieder Bahn bricht, nennt Benjamin ein unphilosophisches Staunen. Es ist auch ein unpsychoanalytisches Staunen.
Freiheit und Krisis, S. 263
«Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich», so der Holocaustforscher Yehuda Bauer 1998 in seiner Gedenkrede im Deutschen Bundestag.
Freiheit und Krisis, S. 457
Hassabwehr (Leugnung resp. Rationalisierung des Hasses [auf Muslime] durch eine ideologische Verkehrung)
«Paradoxerweise gäbe es jedoch zurzeit einen Diskurs, ‘der so tut, als ob das Problem des Antisemitismus der Gegenwart ein Problem mit muslimischen Migranten sei. Wir delegieren den Antisemitismus, das Böse-Sein, an andere.’»
Im Faschismus wird die Pathologie zur Normalität
«…wenn sie ‘an die Macht kommen’ wie sie das selbst gern nennen, dann tun sie allerdings all die Dinge, für die sie vorher für verrückt erklärt worden sind, bzw. für krank, bzw. für Deppen. Der ‘soldatische Mann’ (zugespitzt: ‘der Faschist’) ist eben kein klinischer Fall; so ‘krank’, so borderlining, so ‘schizophren’, so ‘narzisstisch’ oder auch ‘dumm’ er in den Augen überlegener Therapeuten erscheinen mag. Er ist vielmehr das, was er sich unter einem ‘richtigen Mann’ vorstellt.»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 106
«Verblödungsdebatten»
Die Aushöhlung von Rechtsstaat und Demokratie erfolgt(e) durch «die Ersetzung von Debatte und Kritik durch politisches Marketing und Medienpopulismus» (Georg Seeßlen)
Schuldabwehr (Verantwortungsabwehr) und Orientierungsverlust in der «politischen Mitte»:
«Staatsfeindschaft und Linksgrünenekel» bei den Liberalen, Absenz von Deliberation, Argumentbasiertheit und Orientierung bei den Konservativen: «Sie [Kramp-Karrenbauer] richtet auf der Basis von ‘Beschlusslagen’, nicht auf der Basis von Argumenten und Gründen. Sie führt die Partei, wie ihre Vorgängerin, durchs programmatische Niemandsland – aus umfassender Orientierungslosigkeit.» Ergebnis sind Politiker, «die keinen Sinn mehr entwickeln können für das, was konservativ und bürgerlich, liberal und christdemokratisch ist – und die vor lauter Ressentiment gegen klimahysterische ‘Gutmenschen’ und deren angeblichen Enteignungsfantasien auch den Beifall rechtsradikaler Bösmenschen in Kauf nehmen. Die CDU hat aus Angst vor dem Verlust ihres ‘konservativen Kerns’ ihr Bewusstsein fürs Konservative verloren. Und die FDP hat aus Angst vor der schieren Übermacht vegetarischer und radfahrender Liberaler keine Ahnung mehr, was sie unter Freiheit verstehen soll. […] CDU und FDP dagegen sind […] von einer entschlossenen, selbstbestimmten Politik, die sich nicht am politischen Gegner orientiert, sondern kraft Programmatik, Gestaltungswillen und Opportunität Lösungswege sucht, um eine Welt, wie sie ist, politisch avanciert zu bewirtschaften, vielleicht weiter entfernt als je zuvor in ihrer Geschichte.»
Freiheit ist «Ent-täuschung»
«Es heißt immer, wir leben in postideologischen Zeiten. Aber das stimmt nicht. Überall sind Ideologien. Wir Intellektuelle müssen alles Täuschende aufzeigen.»
Hysterie in der Musik
«Schönberg hat die Hysterie in Musik übersetzt.»
«Seht ihr’s, Freunde, seht ihr’s nicht?», so Isolde in der Schlussarie von Wagners Oper Tristan und Isolde: Sie hysterisiert den toten Tristan als lebendig und will ihr Wahnbild von den Anderen bestätigt (begehrt) wissen. Die Verleugnung des Todes einer nahestehenden Person ist gemäss Freud psychotisch, nicht neurotisch.
Freiheit und Krisis, S. 207 f.
«Mütigkeit»
«Zur rechtsradikalen Hetze gehörte schon damals die Phrase ‘Man darf es ja nicht sagen, aber…’. Damit wurde und wird Mut simuliert. Den man aber nicht braucht.»
«[S]o zu tun, als breche man gewaltige Tabus, gehörte und gehört zum Kerngeschäft neofaschistischer Propaganda.»
Arno Widmann (über Theodor W. Adornos Vorlesung über den «neuen Rechtsradikalismus» aus dem Jahre 1967)
Judith Butler spricht angesichts des Opferdiskurses der Autoritären, die sich selber als mutig bezeichnen, wenn sie ihren als «Meinung» rationalisierten Hass äussern und sich gegen angebliche Redeverbote wenden, von «Mütigkeit»: «The way the Right uses its courage, its ‹Mütigkeit›, whatever – this strikes me as a way of saying: I have suffered for a long time with my racist passions, you know, keeping my racist passions to myself.»
Freiheit und Krisis, S. 472
Austreibung des Denkens aus der Psychologie
«Habermas […] charakterisierte die Unterschiede in den Psychotherapieverfahren dadurch, dass die psychoanalytischen [resp. psychodynamischen, verstehenden] Ansätze aufgrund ihres Verständnisses von Forschen und Heilen einem ‘emanzipatorischen Erkenntnisinteresse’, die Verhaltenstherapie [mit ihrem naturwissenschaftlichen Forschungsparadigma] einem ‘technischen Erkenntnisinteresse’ verpflichtet seien. Stattdessen wird von einigen Klinischen Psychologen postuliert, dass eine empirisch abgestützte ‘Einheitspsychotherapie’ anzustreben sei. Bei näherem Hinsehen werden aber dadurch die eben skizzierten grundlegenden Unterschiede der beiden Psychotherapietraditionen zum Verschwinden gebracht.»
Marianne Leuzinger-Bohleber (Anmerkungen M. B.)
Leuzinger-Bohleber spricht von einem «Monopol der Verhaltenstherapie» und fragt: «Das Ende Sigmund Freuds?»)
Psychische Tatbestände wie die traumatische Verfassung des Subjekts (Peter Widmer) oder die Abwehr lassen sich nur mithilfe eines philosophischen Denkens erfassen und verstehen. Es wäre «Ereignis-Revisionismus» (Alain Badiou), die Psychoanalyse wie eine empirische Wissenschaft zu betreiben und ihre Inkommensurabilität gegenüber den methodischen Anforderungen der empirischen Wissenschaften nicht gelten zu lassen.
Freiheit und Krisis, S. 332
Erforderlich wäre eine Synthese von Sozialtheorie und einer sich entwickelnden Psychoanalyse: eine Hereinnahme des psychoanalytischen, hermeneutisch- anthropologischen Denkens in die Sozialtheorie. Wo eine Berücksichtigung der Psychoanalyse versucht worden sei, habe man «im Gefolge der Frankfurter Schule» die «metapsychologische Ebene» durch eine «soziologisierende Interpretation» und durch eine «Betonung des empirisch Nachvollziehbaren» verpasst, so Seifert: Der Todestrieb – der Wunsch nach Vernichtung von Kenosis und Ananke stellvertretend im Anderen – und die Metapsychologie gelten als erledigt. Das Absolute, die Kastration, ist nicht ‹Gegenstand› der Gesellschaftstheorie, obwohl sich dieses Namenlose bis ins Kleinste gesellschaftlich auswirkt. Grundlegende Konfliktursachen kommen damit von vornherein nicht in den Blick. Der Soziologe Hans Joas wirft der ganzen Soziologie eine diesbezügliche Blindheit vor.
Freiheit und Krisis, S. 436 f.
Hinsehen, Hinhören, Begegnenlassen und Seinlassen
«Der Jurist fragt sich: ‘Bin ich zuständig?’ Die Sozialarbeiterin denkt: ‘Wie kann ich helfen?’ […] JuristInnen, die keine soziale Nähe zu Menschen und deren Schicksale suchen und vertragen, sind als KESB-Mitglieder so wenig geeignet wie SozialarbeiterInnen, die gegenüber Anwälten nicht auch rechtlich argumentieren können.»
Astrid Esrtermann, Annäherung zweier Kulturen, in: SozialAktuell Nr. 12/2018, S. 33
Positiv formuliert ist die summa lex das Gebot zur ‹Übernahme› der Teilnehmerperspektive des Anderen (Empathie, Mitgefühl, Offenheit, Begegnenlassen): «Du sollst den Nächsten in seinem Erleben und Erleiden begegnen lassen!» oder «Du sollst den Anderen in seiner radikalen Andersheit, Eigenständigkeit und Entzogenheit erkennen, anerkennen, sein lassen und auch befördern!» (Brežnás «Recht auf Fremdheit»). Das Recht hat dieser summa lex zu entsprechen.
Freiheit und Krisis, S. 525
Diese Offenheit des Hörens – das Hinhören und Hinsehen zum Nächsten – ist auch Sinn des Rechts.
Freiheit und Krisis, S. 368
Links und rechts
«Dass links und rechts wesensverwandt seien, ist eine Lüge, die der Mitte so zupasskommt, die aus gut materiellen Gründen nach rechts neigt […] und ihren latenten Faschismus in die Angst vor den ‘Extremen’ packt; Extreme, die [alles andere] als identisch sind, will das eine Extrem doch das Glück für alle, das andere aber das Unglück dadurch beseitigen, dass man die Unglücklichen totschlägt.»
Stefan Gärtner, Rechts vor links, WOZ 06.10.2016, S. 28
Grundlegend ist ein Freiheitsbegriff, der das Abgründige einschliesst. Nur durch diesen Einschluss kann die Kultur sich davor schützen, dass Freiheit auf einen Freiheitsersatz reduziert und der abgründige Aspekt der Freiheit in Anderen inszeniert und abgewehrt wird, was auf die Vernichtung des Anderen hinausläuft. Ananke (Angst) und Kenosis (Scham) werden gesellschaftlich inszeniert. Der Regisseur Gernot Grünewald spricht von einer gesamtgesellschaftlichen Inszenierung der Angst.
Freiheit und Krisis, S. 543
Die offene Gesellschaft treibt in den Autoritarismus
Autoritäre Bewegungen «bieten all jenen Zuflucht, die in der pluralen Gesellschaft um sich selbst fürchten».
Die offene Gesellschaft setzt das Individuum aus – namentlich auch ontologisch: Sie macht, dass «die Zeichenordnung durch einen traumatischen Einschlag ihr Kohärenzversprechen nicht mehr einlösen kann» (Schulte).
Freiheit und Krisis, S. 506
Entsprechend seinem Nein zur psychischen Entgrenzung und Fragmentierung sind für den autoritären Charakter nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch offene Grenzen und die Abhängigkeit von Anderen Reflex eines ontologischen Grauens.
Freiheit und Krisis, S. 451
Ideologien der Fremdbestimmung (Soziologismus, Marxismus)
«Die politischen Analysten sind sich meist einig: Die Gründe [für Autoritarismus] liegen in den wirtschaftlichen Verhältnissen, heisst es. […] Eine späte Genugtuung für Karl Marx.»
Newsletter GMS 26/2017, S. 7
Im Marxismus erscheint der Mensch fremdbestimmt durch die vorherrschende Ideologie, im Soziologismus fremdbestimmt durch die Verhältnisse und im Biologismus determiniert durch Gene und die Gesetze der Selektion. Aus dem Blickfeld gerät bei solchen Ideologien der Fremdbestimmung oder «Afterphilosophien» (Jaspers), wie selbstbestimmt (aktiv) der Mensch in Unterdrückungsverhältnisse flieht, weil diese eine Beruhigung über den Tod verschaffen (Heidegger): weil sie die Strukturen aufweisen, deren der Mensch für das Unbewusst-Machen ‹seiner› Freiheit bedarf.
Freiheit und Krisis, S. 245
Massenpsychose: Losgelassene Lust am Töten
1915 verfasste Freud seinen Essay «Zeitgemäßes über Krieg und Tod». Darin formulierte er seine Überzeugung, daß wir eigentlich gar nicht berechtigt seien, vom «unkulturellen Benehmen unserer Weltmitbürger» im Krieg enttäuscht zu sein, denn: «In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten.»
Sigmund Freud, zit. bei Christfried Tögel
Einstein glaubte, dass das Bedürfnis des Menschen «zu hassen und zu vernichten» in Friedenszeiten lediglich latent vorhanden ist, unter bestimmten Umständen aber «leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden» kann. Freud wendet sich gegen die marxistische Ideologie der Fremdbestimmung (liefert aber mit seiner Destruktionstrieb-Theorie selbst eine solche Ideologie): «Auch die Bolschewisten hoffen, dass sie die menschliche Aggression zum Verschwinden bringen können dadurch, dass sie die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verbürgen und sonst Gleichheit unter den Teilnehmern an der Gemeinschaft herstellen. Ich halte das für eine Illusion. Vorläufig sind sie auf das sorgfältigste bewaffnet und halten ihre Anhänger nicht zum Mindesten durch den Hass gegen alle Außenstehenden zusammen.»
Einstein und Freud, zit. bei Christfried Tögel
Gemäss dem Schriftsteller Adolf Muschg «stimmen die einfachsten Grundannahmen» über den Menschen «nicht: dass er ungern hasse oder nur aus Not töte; dass Menschlichkeit normal sei». […] Das Staunen darüber, dass das Monströse sich immer wieder Bahn bricht, nennt Benjamin ein unphilosophisches Staunen. Es ist auch ein unpsychoanalytisches Staunen.
Freiheit und Krisis, S. 263
Schamfall (Psychose) bei Nietzsche: Herausfallen aus den ideologischen Zusammenhängen als Grundlage der Moral (Moral verstanden als Triebfeder, die sich selbst genügt)
«Insofern ist Gott tot, dass nämlich die Menschen ihr Leben nicht mehr an Gott und der Bibel und biblischen Geboten ausrichten. Wenn diese Regeln alle wegfallen, dann sind wir in einer gewissen Leere. Und das ist dann das – nicht nur von Nietzsche, aber auch von ihm – diagnostizierte Zeitalter des Nihilismus. Und in diese Freiräume der Moral und der Werte kann sich insbesondere der Übermensch entfalten, der nämlich diese Leere überwindet und aus sich heraus neue Werte, Normen und Moral und Anschauungen schafft.»
Nietzsches «Übermensch» überwindet die Rache der «letzten Menschen», die in der Ideologie gefangen sind (die «blinzeln»). Nietzsche hat mit seinem «Übermenschen» einen Menschen vor Augen, der sein Wesen offenhält.
Freiheit und Krisis, S. 129, Fn. 276
Der psychoanalytische Rechtstheoretiker Martin Schulte lässt die Frage offen, ob die offene Gesellschaft, die den Menschen in die Krisis aussetzt, Nietzsches Übermenschen erfordert. Erforderlich wäre eine Kultur, die das existenziale Denken als eine Kulturtechnik pflegt. Existenzial-psychoanalytisches Denken ist noch nicht die Metanoia, die Nietzsches Übermenschen erfordern würde, sondern ein Nachdenken über die Freiheit und darüber, wie dieses Abgründige in den Systemen wirkt. Ein solches Nachdenken ist aber bereits bedrohlich genug, um – wie oben mit Tillich gezeigt wurde – massive gesellschaftliche Abwehr (psychoanalytisch: «Widerstand») auszulösen.
Freiheit und Krisis, S. 333 f.
Das «Über» von Nietzsches «Übermenschen» ist eher im Sinne des lateinischen trans (hinüber), transcendere (hinübergehen) zu verstehen, nicht im Sinne des lateinischen supra. Untergehen sei ein Hinübergehen, lässt Nietzsche seinen Zarathustra in Also sprach Zarathustra sprechen (Vorrede, 4: «Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde» und: «Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden»).Die englische Übersetzung «superman» sei die «falscheste aller nur denkbaren», so der Germanist Peter Pütz […]. Loick […] spricht hinsichtlich dieser Verwechslung von trans mit supra von einem kapitalen Missverständnis, dem eine «übergrosse Mehrheit der Nietzsche-Forscher*innen» aufsitzt. Zarathustra stellt demnach einen Menschen (einen Idealtypus, einen Heiligen) dar, der nicht mehr gegen ‹seine› Kenosis, ‹sein› ontologisches Untergehen, und nicht mehr gegen die Ananke, das ontologische Verschlungenwerden, rebelliert, rebellieren muss oder rebellieren kann. Zarathustra steht für die totale Desillusionierung, die einen befreienden, erlösenden Aspekt (das fascinosum) hat.
Freiheit und Krisis, S. 333 f, Fn. 857
Nietzsches «Zarathustra» verlässt erreichte Lebensstationen immer wieder, damit diese nicht zu gefestigten Positionen werden. Er verweigert die Idealisierung seiner eigenen Person, ruft damit zum «Vatermord» auf, entzieht sich als Übertragungsobjekt und durchschaut die Gegenübertragung als Versuchung zur Ich-Aufblähung («Du suchst nach grossen Menschen, du wunderlicher Narr? […] O du schlimmer Sucher, was – versuchst du mich?»). Die Figur Zarathustra entlarvt alle Formen des Idealismus als heuchlerisch und zertrümmert die erstarrte Normalität.
Freiheit und Krisis, S. 504 f.
Nietzsche – «Ein Denker, der in den Abgrund blickte»
Der Sinn des Lebens ist die Selbstwahl, das «Werde, der Du bist!» (der «Übermensch»)
Zarathustra: «Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne Sinn […]. Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.»
Friedrich Nietzsche, zit. bei Alfried Schmitz
«Oben-ohne-Theologie» (Hans Zoss)
Der Basler Theologe und Nietzsche-Freund Franz Overbeck «geht in seinen Ausführungen dann sogar so weit zu sagen, dass die Theologie die christliche Religion komplett infrage stelle.»
Urs Sommer, zit. bei Alfried Schmitz
Anziehen des neuen Menschen (Umkehr, Kehre, Metanoia)
Kant bezieht sich bei seinem «Anziehen des neuen Menschen» (Metanoia) auf Eph 4,22-4,24: «Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.»
Der Imperativ «Ändert euren Sinn!» oder «Denkt um!», «Metanoeite!» – dieser Aufruf Johannes’ des Täufers erfahre in der lateinischen Übersetzung (mit «Poenitentiam agite!», «Tuet Busse!») einen empfindlichen Bedeutungsverlust, so der Philosoph Stefan Brotbeck. Die Metanoia (altgr. μετάνοια: Busse, Reue) steht für Wendepunkt, Sprung, positiver Kairos: für das Ergreifen des Augenblicks. Existenzial-ontologisch zielt «Umkehr» oder «Auferstehung zu neuem Leben» (Kants Anziehen des neuen Menschen) nicht auf ein Reich jenseits des physischen Todes, sondern auf ein diesseitiges, mögliches Reich jenseits desjenigen Todes, der die Verschliessung des Geistes, die Beziehungsunfähigkeit, die Gleichgültigkeit und Gefühlskälte ist.
Freiheit und Krisis, S. 293
Die «Weissen» spüren den Rassismus nicht
Rassisten werden hofiert statt ausgegrenzt. «Manchmal würde ich lieber Klavier spielen lernen, statt wieder einen Vortrag über Rassismus zu halten und zu beweisen, dass wir uns das Ganze nicht einbilden. Nicht jeder kann seine Themen frei wählen. Menschen mit Rassismuserfahrung haben nicht das Privileg, zu ignorieren.»
Struktureller Rassismus fällt den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft in der Regel gar nicht auf: Er ist «gleichzeitig omnipräsent und unsichtbar», so die Geschlechterforscherin Patricia Purtschert […]. Wer als Weisser durch die Welt gehen kann, dem fehlt die Erfahrung der vielfältigen Zurückweisungen, der unsichtbaren Grenzen und Ängste, die People of Colour im öffentlichen Raum erleben, so der Rechtssoziologe Christopher Young. «Gehören Sie in einem Land einer Mehrheitsgruppe an, die gleichzeitig Normalität und Normativität ist, dann sind Sie sich dieses Privilegs gar nicht bewusst», so der Islamwissenschaftler Amir Dziri.
Wichtig sei es deshalb, dass Schwache und Marginalisierte selbst zu Wort kommen, so der Historiker Kijan Espahangizi: «Die soziale Realität des Rassismus und Rechtsextremismus war nie weg. […] Verschwunden war sie nur für diejenigen, die das Privileg hatten, wegschauen, verdrängen und/oder vergessen zu können.» Von dieser grundsätzlich anderen Erfahrung des öffentlichen Raums würden Weisse oft nichts wissen, sondern ihre Perspektive in irriger Weise allgemein setzen, ihren «weissen Standpunkt» generalisieren, so Young. Mit fehlendem Einfühlungsvermögen in die Situation Marginalisierter geht eine Diskreditierung von Rassismuskritik einher: als «Sprachpolizei» oder als übertriebene politische Korrektheit.
Freiheit und Krisis, S. 353 f.
Volksverhetzung
«Rassistische Gewaltakte sind keine Einzelfälle. […]. Diesen Taten gehen Worte voraus.»
Dem Inzestverbot entspricht das psychoanalytische Tötungsverbot. Während das Inzestverbot Lichtgestalten betrifft, betrifft das Tötungsverbot die Dunkelgestalten. Das Tötungsverbot ist ein Nein zur imaginären Vernichtung des Nichtseins stellvertretend in Anderen. Ohne den «jüdischen Teufel», so Klemperer, «hätte es nie die Lichtgestalt des nordischen Germanen gegeben». Imaginäre Vernichtung bleibt nicht imaginär, sondern inkarniert, materialisiert und realisiert sich: zuerst in der Hassrede, dann im gesellschaftlichen Ausschluss, schliesslich in der Entrechtung bis hin zum Völkermord. Dieses ‹Töten› zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen in Konflikten, Politik und Alltag.
Freiheit und Krisis, S. 401 f.
Die Meinungsäusserungsfreiheit kann und darf nicht nur funktional für den demokratischen Meinungsbildungsprozess oder als Bestandteil der Entfaltungsfreiheit verstanden werden. Meinungsäusserung, verstanden als eigene Urheberschaft, ist Sinn an sich. Sie ist Hervorkehrung der Freiheit. Im Sinne dieses Selbstzwecks hat der Ruf des Gewissens, der in die Metanoia (zur Erhebung der eigenen Stimme) ruft, nichts zu erzählen (Heidegger). Freiheit und ihre Hervorkehrung (Metanoia) sind der Glaube (faith) oder das Bekenntnis des Rechts: Das Recht will seinem Sinn nach die Erhebung der eigenen, unverfälschten und unverwechselbaren Stimme, es will die eigene Urheberschaft, den offenen Geist, die Exposition, die Hinauslehnung, den freien Menschen und eine eigentliche Verantwortungsübernahme. Das Recht will seinem existenzial verstandenen Sinn nach die Übernahme von etwas, das man selbst je schon ist. Das Recht repräsentiert das Schuldbewusstsein, den Ruf des Gewissens, der kein Ruf ist, der vom Über-Ich her kommt.
Die Meinungsäusserungsfreiheit steht in direktem Widerspruch zur Hassrede und Diskriminierung, nicht nur in indirektem Widerspruch über den Umweg der Menschenwürde: Hass wendet sich gegen die Offenheit des Geistes, rächt sich stellvertretend in Anderen am Leben und macht Mitglieder bestimmter Gruppen, die den Abgrund der Freiheit zu repräsentieren haben, klein, mundtot und anpasserisch […]. Hassrede schliesst Menschen aus der Diskursgemeinschaft aus und steht damit in direktem Widerspruch zur Meinungsäusserungsfreiheit.
Dass Hassrede durch die Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt sei, ist eine ideologische Verkehrung des Sinns sowohl der Hassrede als auch der Meinungsäusserungsfreiheit. Preisgabe der ethischen Enthaltsamkeit des Rechts (Loick) lässt sich mit Blick auf die Meinungsäusserungsfreiheit und mit Fromm wie folgt formulieren: «Das Recht der Gedankenfreiheit bedeutet jedoch nur dann etwas, wenn wir auch fähig sind, eigene Gedanken zu haben».
Freiheit und Krisis, S. 527
Verhetzung: Rassisten werden hofiert statt ausgegrenzt
«Hass auf Muslime gehört zum guten Ton und wird mit Wählerstimmen und einem Platz in der nächsten Talkshow belohnt.»
Hinsichtlich der Feinde des demokratischen Rechtsstaates und seines deliberativen, alle Menschen einschliessenden Diskurses, die unter Missbrauch der Sprache andere mundtot machen wollen, fordert Theweleit eine scharfe Demarkation (Ausgrenzung) und eine deutliche Sprache: «Ihr seid erklärte Feinde jenes demokratischen Systems, dessen Formate wir hier diskutativ repräsentieren. Und da gehört ihr nicht rein».
Freiheit und Krisis, S. 352
Ernstnehmen von «Ängsten»
«Die deutsche Gesellschaft ist vom Feindbild Islam so tief durchdrungen, dass sie Muslime als Opfer gar nicht wahrnehmen kann oder will. […] Ich muss beweisen, dass ich kein böser Muslim bin, sondern die freiheitlich-demokratische Grundordnung achte. Immer wieder stehe ich unter dem Druck, meine Zugehörigkeit unter Beweis zu stellen. Aber das Integrationsversprechen löst sich einfach nicht ein. Egal, wie gut Deutsch man spricht, wie sehr man sich gesellschaftlich einbringt, man wird nicht als einer von hier gesehen. […] Es handelt sich nicht um eine angebliche Islamisierung, wenn Muslime Lehrerinnen oder Richter werden, wenn sie Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen moderieren oder in Wirtschaft und Politik Führungsposten haben. Das nennt man Teilhabe in einer pluralistischen Gesellschaft. Ängste vor vermeintlich Fremden werden geschürt, Rassisten hofiert und antimuslimische Parolen skandiert. Und dann wundert man sich, wenn ‘besorgte Bürger’ zu Waffen greifen, um Chaos zu stiften und sich damit ‘ihr Land’ zurückholen wollen? […] Ich bin nicht überrascht, dass sich Rechte organisieren und Anschläge auf Moscheen planen. Aber wo bleibt der Aufschrei der Mehrheitsgesellschaft?»
Das Ernstnehmen von Hass, der sich als «Ängste» oder «Meinung» tarnt, ist gerade kein Ernstnehmen des mündigen Bürgers, sondern eine entmündigende Bestätigung der Opferposition derjenigen, die sich selber als fremdbestimmte Opfer wahrnehmen und entmündigen wollen, um sich nicht ins Un-zuhause der Freiheit und einer offenen Gesellschaft ausgesetzt zu sehen. Von der Politik fordert der autoritäre Charakter ein Ernstnehmen dessen, was er als seine Sorgen, seine Nöte oder seine Ängste bezeichnet (Lacans Discours de l’Hystérique). Die Sorgen und Ängste der Ausgeschlossenen sind ihm dabei gleichgültig.
Die Kolumnistin Ferda Ataman bemerkt hinsichtlich eines solchen Ernstnehmens von «Sorgen», dass immer nur über Minderheiten gesprochen werde, kaum je mit Mitgliedern von Minderheiten. Thema seien die Sorgen der AfD-Wähler, nicht die Sorgen muslimischer, jüdischer oder homosexueller Wähler, die unter Titeln wie «Sorgen» oder «Ängste» ausgeschlossen werden. Das Ernstnehmen von «Sorgen» (Mitagieren) durch weisse, männliche Moderatoren in Sendeformaten wie den ARD-Wahlanalysen würde sich aus der Perspektive der Betroffenen, die offenbar nicht als zum Wir gehörig mitgedacht und mitangesprochen werden, wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen: «Als wäre ‹Verlust der deutschen Kultur› kein Code für ‹Deutschland den Deutschen›. Als wäre die diffuse Sorge vor einem zu starken Einfluss ‹des Islam› kein deutliches Anzeichen für antimuslimischen Rassismus.»
Freiheit und Krisis, S. 326
«Prototheologie»: Synthese von Anthropologie und Theologie
«Und ich glaube, Theologen und Anthropologen machen denselben Fehler: Sie sehen nicht, dass sie in unterschiedlichen Sprachen über das Gleiche reden. […] Nötig wäre, dass wir die theologische Lesart durch eine anthropologische ergänzen, welche die Schriften auf menschlicher Ebene verständlich macht. Das ist sehr schwierig, weil sich die Leute nicht dafür interessieren, es vielmehr sogar abwehren.»
Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie, so Feuerbach, und es gälte, die Theologie (auch) als ein altes Sprechen über die Psyche zu begreifen.
Freiheit und Krisis, S. 500
Dabei geht es namentlich um ein Zusammendenken von Psychoanalyse, Philosophie und Theologie. Existenzial-psychoanalytisches Denken heisst nicht zuletzt: übersetzen und Überblick gewinnen.
Freieit und Krisis, S. 27
Dies erinnert […] an eine Aussage von Karl Jaspers: «In der Liberalität scheint die natürliche Entwicklung […], dass Theologie und Philosophie sich treffen, vielleicht am Ende wieder eins werden könnten, wie sie es bei Plato, den Stoikern, Origenes, Augustin, Cusanus waren.»
Freiheit und Krisis, S. 389
Noch vor Feuerbach sah Kant die «anthropologische Dimension der Theologie» (Rentsch). Theologie ist – wenigstens weitenteils – ein anderes Sprechen über den Menschen und seine Psyche. Das Geheimnis der Theologie sei die Anthropologie, so Feuerbach. In der existenzialen Interpretation des Absoluten liegt gerade kein Anthropomorphismus: keine Übertragung von menschlichen Eigenschaften oder Wünschen auf Nichtmenschliches (hier: keine Vermenschlichung Gottes). Das Absolute wird gerade nicht auf ein Seiendes reduziert, nicht auf einen Götzen nach unseren Wünschen und Vorstellungen. Es liegt gerade kein secundum hominem recipere (keine Konstruktion des Absoluten nach unseren Wünschen) vor. Die ontologische Differenz (das Bilderverbot) wird gerade nicht verletzt. Nicht-konstruiert ist das auf eine Gottesvorstellung projizierte Grundgeschehen der Psyche. Im Konstruierten, Vorgestellten zeigt sich das Nicht-Konstruierte, Authentische.
Freiheit und Krisis, S. 300 f.
Feuerbach hält das Absolute für eine Projektion unseres besseren Selbst (Projektionstheorie Gottes). Psychoanalytisch und auch psychiatrisch tragen das Absolute und seine Hypostasen neue, unverfängliche Bezeichnungen wie «Mangelerfahrung», «Überschwemmung» oder «impressive Entzügelung» (Janzarik). Bezeichnet wird aber der alte Gott. Gegenüber der Theologie gelte es eine falsche Scham abzulegen, so Lipowatz. Dies betrifft auch die Sozial- und Rechtswissenschaft: Darüber, was Transzendenz und deren Abwehr für Recht und Gesellschaft bedeuten – und darüber, was daraus für Recht und Gesellschaft abzuleiten wäre –, geben sich Sozialtheorie, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie nicht oder kaum Rechenschaft.
Freiheit und Krisis, S. 308 f.
«In den Momenten, in denen wir uns den Ruf nach einer von aussen eingreifenden starken Hand untersagen» und in «denen wir die Lösung nicht von aussen erwarten», «beginnt in uns eine Suchbewegung nach dem inneren ‹Werden wie Gott›», so der Theologe Tobias Eckinger hinsichtlich des psychoanalytischen «Vatermords» (des ‹Mords› am Übertragungsobjekt). […] «Gott» ist eine Chiffre für das Namenlose, das in der Exposition als Erkenntnishorizont aufgeht. ‹Er› offenbare sich im Zulassen der Krise, so Eckinger […]. «Nicht wie Gott sein zu wollen wird dann zur Ursünde des stumpfen Menschengeschlechtes», so der Theologe Jürgen Moltmann hinsichtlich Blochs Atheismus im Christentum. Nicht die Menschwerdung Gottes, sondern die Gottwerdung des Menschen – hier kehre sich der radikale Atheismus zur vollendeten Mystik: Gott und Mensch – Freiheit und Mensch – «werden ununterscheidbar eines Wesens». Die Schlangenverheissung einer wahnhaften Vernunft (und ein so verstandenes «Werden wie Gott») erfülle sich in einer mystisch-utopischen (authentischen) Vernunft.
Freiheit und Krisis, S. 496
Eigene, unverwechselbare Stimme
«Ich möchte in einer Kultur der Stille leben, in der es vor allem darum ginge, die eigene Stimme zu finden.»
Peter Bieri
Jeder Existenzmodus hat sozusagen seine eigene Sprache – hier Rede, authentische Stimme; dort Gerede, Ideologie, ausgeliehene Stimme.
Freiheit und Krisis, S. 521
Leugnung des Todes im und durch den Tod: «Zum fiktiven Erreichen der Körperganzheit» (Theweleit) im Tod; fehlende Besetzung der Entwicklung
«All diese Selbstmordattentäter würden sich liebend gern 99 Mal und mehr in die Luft sprengen […], um […] neu ins Erdenrund zurückzukehren auf der immerwährenden Neustart-Taste, denn das haben sie gelernt (oder fantasieren es zumindest): tot ist nicht tot, es gibt immer den Neustart, das ewige Replay: Nichts ist endgültig! […] Wo alles austauschbar und wieder einschaltbar ist, haben es Tod, Schuld und Bestrafung schwer, ihre Gravitation zu entfalten.»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 189 f.
Fanatische Selbstmordattentäter versuchen noch im und mit dem (erweiterten) Selbstmord ihre Unsterblichkeit zu beweisen.
Freiheit und Krisis, S. 243
Ideologien der Fremdbestimmung: Soziologismus
Erforderlich wäre eine Synthese von Sozialtheorie und Psychoanalyse
«Die Erhebungen über die drei [Attentäter] ergeben schon ‘ein Bild’; aber es sind lauter soziologische Daten, anhand derer dies ‘Bild’ sich bilden muss. ‘Unangepasste junge Migrantenmänner mit Berufs- und Integrationsproblemen’; wie es sie aber zu Zehntausenden gibt. Den ‘Killer’ kapieren kann man daraus nicht.»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 214
«Was diese Form der ‘sozialisierenden Gewalt’ [Heitmeyer: der Anerkennungsverweigerung oder Anerkennungszerfall, die den Wunsch nach alternativen Anerkennungsquellen aufkommen lassen; Anm. M. B.] in den Körpern der Einzelnen anstellt und welche Handlungen sie hervorbringt, entzieht sich der soziologischen Fragestellung; sie begnügt sich mit einer möglichst treffenden Benennung des Phänomens. […] Eine Aufmerksamkeit für spezielle Konstellationen in der Psyche der Einzelnen […] sieht dieser Blickwinkelt vor.»
Klaus Theweleit, ebd., S. 222 f. hinsichtlich Wilhelm Heitmeyer
Erforderlich wäre eine Synthese von Sozialtheorie und einer sich entwickelnden Psychoanalyse: eine Hereinnahme des psychoanalytischen, hermeneutisch- anthropologischen Denkens in die Sozialtheorie. Wo eine Berücksichtigung der Psychoanalyse versucht worden sei, habe man «im Gefolge der Frankfurter Schule» die «metapsychologische Ebene» durch eine «soziologisierende Interpretation» und durch eine «Betonung des empirisch Nachvollziehbaren» verpasst, so Seifert: Der Todestrieb – der Wunsch nach Vernichtung von Kenosis und Ananke stellvertretend im Anderen – und die Metapsychologie gelten als erledigt. Das Absolute, die Kastration, ist nicht ‹Gegenstand› der Gesellschaftstheorie, obwohl sich dieses Namenlose bis ins Kleinste gesellschaftlich auswirkt. Grundlegende Konfliktursachen kommen damit von vornherein nicht in den Blick. Der Soziologe Hans Joas wirft der ganzen Soziologie eine diesbezügliche Blindheit vor.
Freiheit und Krisis, S. 437
«Ganz normale Männer» (Christopher Browning) und «ganz normale Organisationen» (Stefan Kühl)
«Er führte ein normales leben, in einer normalen Familie, in einer normalen Umgebung, in einer normalen Schule. Ja, was denn, zum Teufel, sollte denn sonst gelten? Man will darauf hinaus, dass die tötungsbereiten jugendlichen Killer-in-spe oder Selbstmordattentäter Ausnahmemenschen sein müssten bzw. sollten. Dem ist nicht so. […] Es sind immer ganz normale Männer, die das Killing übernehmen. Die zwischen ‘ganz normalen Männern’ und ‘wilden Massenmördern’ eingezogene Trennwand ist schlicht abzubauen. Es ist eine reine Selbstschutzwand. Das Morden und Massenmorden gehört zum ‘ganz normalen’ Mann-Typ dazu – immer dort, wo die Schleusen einmal geöffnet sind.»
Klaus Theweleit, Das Lachen der Täter: Breivik u.a., Psychogramm der Tötungslust, St. Pölten, Salzburg und Wien 2015, S. 224 f.
Indem man Täter zu «Monstern» stilisiert und so jedes analytische Verständnis von ihnen abzieht, lässt sich neurotisch verdrängen, dass es «ganz normale Männer» sind, die Menschen quälen und abschlachten – und was dies mit einem selbst zu tun haben könnte. Diese Verdrängung zeigt sich in jeder Blick- oder Bild-Schlagzeile, in welcher Täter zu Bestien stilisiert werden, die man vorgeblich nicht verstehen kann.
Freiheit und Krisis, S. 262
«Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich», so der Holocaustforscher Yehuda Bauer 1998 in seiner Gedenkrede im Deutschen Bundestag.
Freiheit und Krisis, S. 457
In normalen Zeiten wird der Todestrieb neurotisch verdrängt. Kollektiv verdrängt wird auch und gerade medial, namentlich über die Boulevardmedien. Das Verbrecherische wird ideologisch als nichtverstehbar dargestellt: «Hauptsache unvorstellbar, teuflisch, monströs», so der ehemalige deutsche Bundesrichter Thomas Fischer. Auf diese Weise muss man den Todestrieb weder verstehen noch an sich selber feststellen – und nützlicherweise werden auch gleich noch Sündenböcke geliefert, auf welche man das Böse projizieren kann (Hassabwehr). In Kriegen und Bürgerkriegen, wo ‹ganz normale› Familienväter zu ‹Bestien› werden, bricht sich dann Lacans Mehrlust Bahn – um hinterher wieder als unverstehbar zu verschwinden.
Freiheit und Krisis, S. 466
Ersatzbildungen des Absoluten / des Namenlosen / der Freiheit: «Myriaden säkularer Gottesnamen»
«Gott kann in seinen eigenen Kosmos nicht aufgenommen werden, ebenso wenig wie das Auge ohne die Hilfe eines Spiegels als Objekt seines eigenen Gesichtsfelds taugt. […] Daraus ergibt sich, dass ‘Freiheit’ oder ‘Subjektivität’ nur einer von Myriaden säkularer Gottesnamen ist. […] Wer es unternimmt, diesen Punkt der reinen Selbstbestimmung zu objektivieren, dieses schlüpfrige Ding, das auf ewig sich selbst entspringt und gar kein Ding ist, sondern reines Tun und Prozess, der riskiert, es im Augenblick der Erkenntnis zu töten. Wie das Unbewusste bei Freud, muss der Geist aus dem Blickfeld des menschlichen Bewusstseins verschwinden, wenn dieses Bewusstsein seine Aufgaben richtig erfüllen soll. Der ‘bodenlose Abgrund der Ewigkeit’, so Schelling, liegt allen Menschen nahe, und sie erschrecken, wenn ihnen das bewusst wird. Über diesem verborgenen Schrecken liegt ein Hauch von Lacan und auch von der fürchterlichen Leere des Erhabenen. Für Fichte, Schlegel und Schleiermacher kann es kein wirkliches Wissen um diesen Grund geben, weil reine Freiheit gleichbedeutend ist mit reiner Leere oder Negativität, was so viel heisst wie: Es gibt kein Objekt, das gewusst werden kann. In ähnlicher Weise kann Gott in der jüdisch-christlichen Theologie nicht ‘gewusst’ werden, nicht nur, weil der menschliche Geist zu schwach ist, um etwas so Erhabenes zu verstehen, sondern weil Gott kein Etwas ist.
Das lebenskräftigste Prinzip der vom Bürgertum geprägten Zivilisation riskiert also ständig, von einer erschreckenden Unbestimmtheit getroffen zu werden. Das Subjekt erscheint dann als trügerisches Gespenst, das verschwindet, sobald wir ihm einen Namen geben.»
Terry Eagleton, Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, München 2015, S. 70 f. (Hervorhebungen der Ersatzbildungen des Absoluten durch M. B.)
«Nicht wie Gott sein zu wollen wird dann zur Ursünde des stumpfen Menschengeschlechtes», so der Theologe Jürgen Moltmann hinsichtlich Blochs Atheismus im Christentum. Nicht die Menschwerdung Gottes, sondern die Gottwerdung des Menschen – hier kehre sich der radikale Atheismus zur vollendeten Mystik: Gott und Mensch – Freiheit und Mensch – «werden ununterscheidbar eines Wesens». Die Schlangenverheissung einer wahnhaften Vernunft (und ein so verstandenes «Werden wie Gott») erfülle sich in einer mystisch-utopischen (authentischen) Vernunft.
Freiheit und Krisis, S. 496
Begriffe wie die folgenden bezeichnen in der vorliegenden Arbeit ein (nahezu) Identisches respektive Hypostasen oder Aspekte dieses Identischen: «das Nichtidentische», «Freiheit», «Transzendenz», «Ereignis», «In-der-Welt-sein», «Aletheia», «Unverfügbarkeit», «Vulnerabilität», «Ausgesetztsein», «Dass», «Ich-Fragmentierung», «präpsychotische Krise», «das Mystische», «Unbewusstes», «Sich-nicht-selbst-Haben», «absolutes Ich», «Qualia», «phänomenales Bewusstsein», «Ich-Du-Verhältnis», «Teilnehmerperspektive», «Gattungsbewusstsein», «primäre Objektbeziehung», «Urtrauma», «Schamfall», «Kontrollverlust», «Ausnahmezustand», «Derealisation», «Depersonalisation», «Kastration», «Kenosis», «Tod». Unter dem Absoluten oder solchen Ersatzbildungen ist in der vorliegenden Analyse eine Offenständigkeit der Psyche und des Geistes zu verstehen, die Wittgenstein als ein Zunehmen der Welt bezeichnet. Psychoanalyse kann sich nur metaphorisch ausdrücken.
Freiheit und Krisis, S. 26
Der Philosoph und Theologe Thomas Rentsch bemerkt hinsichtlich solcher Ersatzbildungen des Absoluten: In der modernen Philosophie – und dies gilt auch für die existenziale Psychoanalyse, die eine philosophische Metaphysik ist – würden «kryptotheologische Motive und Substitute des Absoluten wie eine Wiederkehr des Verdrängten» auftreten, als da wären: «das ‹Sein› bei Heidegger, das ‹Mystische› bei Wittgenstein, das ‹Nichtidentische› bei Adorno, das ‹ganz Andere› bei Horkheimer, die ‹ideale Kommunikationsgemeinschaft› bei Apel, die ‹Differenz› und die ‹Ur-Spur› bei Derrida – um nur einige zu nennen».
Freiheit und Krisis, S. 34
Paradoxie von Untergang und Auferstehung (Ich-Fragmentierung, ontologische Freiheit) als «Grundlage der freiheitlich-demokratischen Wertordnung» (als Rechtssinn)
«Die […] beiden deutschen Staaten dagegen hatten sich mit einem Ereignis auseinanderzusetzen, das für die Deutschen Untergang und Auferstehung zugleich bedeutete. […]» Die «atomisierte deutsche Gesellschaft» durchlebte «eine ‘Stunde Null’, in der die Sorge um das Überleben in der Gegenwart jede nähere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie mit der Zukunft verschluckte. Doch nicht nur Zukunftsverlust kennzeichnete die Erfahrung der totalen Niederlage, sondern ebenso eine schockartige Abkehr von der Vergangenheit, die von den einen willentlich in den Hintergrund gedrängt und von den anderen als ohne eigenes Zutun ausgelöscht empfunden werden konnte. Zahllos sind die Zeugnisse, die in dieser Zeit das eigene Ich aus seinen historischen Bezügen gerissen wähnten und nicht nur gesellschaftlich, sondern auch zeitlich gleichsam atomisiert sahen. In der von ihm mitbegründeten Monatszeitschrift Die Wandlung brachte Dolf Sternberger im Sommer 1945 zum Ausdruck, wie eigentümlich unkenntlich ihm das Bild des Gewesenen geworden war: ‘Ich lebe im Augenblick, und weiß nicht, was mich eigentlich zusammenhält. Alle Dinge sind mir unbekannt – die Kraft, zu fassen und zu nennen, wie ausgesogen. Eine Burg steht lange in der blauen Ferne, mit den beiden großen Türmen, die ich ehedem gut kannte, als wir noch Ausflüge machten. Der Anblick zündet, ich bin voll Freude, etwas wiederzuerkennen, aber der Name fällt mir nicht ein, das Gedächtnis ist wie weggeschlagen.’». Es liegt ein «Sturz in die Zeitlosigkeit» vor, die sich mit Abwehr vermischt: «Als Abwehr der Wirklichkeit durch fieberhafte Geschäftigkeit deutete die im amerikanischen Exil heimisch gewordene Intellektuelle Arendt diese Haltung, an der Besinnungsappelle ohnmächtig abprallten. Zwanzig Jahre später brachten Alexander und Margarete Mitscherlich diese Erinnerungsverweigerung auf die eingängige Formel einer ‘vaterlosen Gesellschaft’, die mit Derealisierung [lies: neurotische Realitätsvermeidung, Sabrow: «Vergangenheitsverschweigung»] auf die traumatisch erfahrene Entwertung des eigenen Ich-Ideals nach dem Erwachen aus dem Rausch der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft reagiert habe.» Theodor Heuss bemerkte: «Im Grund genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.» Zusammenbruch und Aufbruch, Vernichtung und Befreiung (und damit Trauer und Feier) koinzidieren: «Den 8. Mai allein als Tag der Befreiung zu feiern, überschreibt Ambivalenz durch Eindeutigkeit. Dies aber wird der dramatischen Differenz zwischen zeitgenössischer Erfahrung und nachzeitiger Betrachtung nicht gerecht, und es trägt der widersprüchlichen Vielschichtigkeit eines Datums keine Rechnung, das von den Mitlebenden als auswegloser Untergang ebenso erlebt werden konnte wie als ersehnte Rettung.» Der «rettende Zusammenbruch» wird zum «Grundstein unserer demokratischen Wertordnung».
Wahnsinn und Politik: Verrückter Einzeltäter oder politisch motiviert?
«Merkwürdigerweise wird das als Widerspruch betrachtet: Die Leute sind verrückt, und das soll dann heissen, sie hätten keine politischen Motive. Dabei stimmt beides: Die Täter haben politische Motive und sind verrückt. Aber sie sind eben nicht Patienten.»
Klaus Theweleit, «Der Spass am Morden ist bei allen unübersehbar», in: WOZ, 05.03.2020, S. 20.
«Ethik der Psychoanalyse» heisst oder muss heissen, das Begehren (wahnhafte Inszenierungen) auch auf politischer Ebene zu identifizieren und zur Sprache zu bringen […]. Antisemitismus sei eine Krankheit, soll Sartre gesagt haben – ihm müsste demnach vorgeworfen werden zu «pathologisieren». Antisemitismus sei eine «soziale Krankheit» oder gar eine «Männerkrankheit», so die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich. […] Die existenzial-psychoanalytische Interpretation menschlicher und sozialer Phänomene ist nicht einfach ein «Pathologisieren» und «Psychologisieren», das sich verbietet. Eine emanzipative (Streit‐)Kultur darf ideologie- und sinnkritisches Denken nicht mit solchen Killerargumenten vom Tisch wischen. Oft ist auch der Vorwurf «Nazivergleich» ein Killerargument – dann nämlich, wenn Methoden verglichen werden und gerade nicht die grauenhaften Folgen (Holocaust) der kritisierten Methoden. So verstandene «Nazivergleiche» sind im Gegenteil dringend nötig, damit es nicht zu grauenhaften Folgen kommt.
Freiheit und Krisis, S. 223–226
Komplexitätsreduktion
«Der Soziologe Niklas Luhmann hat das Denken als Prozess der Vereinfachung beschrieben. Ich teile diese Ansicht nicht, im Gegenteil: Ich nehme an, das Denken muss die Komplexität der Welt verstehen, und das setzt voraus, dass unser Denken komplexer werden muss.»
Mario Erdheim, «Das Virus ergreift uns, bevor es uns befällt», Tagesanzeiger 29.02.2020
Komplexitätsreduktion ist massgeblich eine Flucht vor der Reizüberflutung durch die präpsychotische Überschwemmung. Sie ist eine Filterung von Reizen, die etwa bei Autisten fehlt, die von Reizen überflutet werden. Komplexitätsreduktion dient der Flucht vor Erkenntnis (vor der Aletheia) und weniger einem Erkenntnisgewinn mittels Informationsselektion. Wird die Komplexität eines Systems reduziert, so sinkt seine Anpassungsfähigkeit an die Komplexität der Umwelt. Komplexitätsreduktion ist ein Ausschluss von Entwicklungsprozessen: Identität, Konsistenz und Versteifung ersetzen das Nichtidentische, das Begriffslose, den Wandel und den Prozess.
Freiheit und Krisis, S. 167 f.
Beim Psychologen Stephan Grünewald klingt die Objektlosigkeit der Angst an, wenn er mit Verweis auf die Hexenverfolgung von uralten Strategien der «Bewältigung» einer komplexen Welt («Komplexitätsreduktion») spricht: Viele Menschen würden verspüren, dass uns die Welt entgleitet. Die Flüchtlingskrise sei ein «Zurechtmachen der Angst». Flüchtlinge seien die modernen Hexen, denen man die Veränderung, die man erlebt, anlasten kann. Die «Komplexitätsreduktion» ist entgegen bekannten und beliebten Theorien nicht (nur) funktionaler Natur: Sie ist nicht (oder weniger) eine Technik der Sinnstiftung und Orientierung, sondern ein Umbau der Realität, der zu nichts nützt – ausser zum Schutz vor dem Absoluten. Die Komplexität, Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit des Begegnenden wird reduziert, um im Begegnenden eine Projektionsfläche für die eigenen Phantasmen zu gewinnen. Der einzigartige, vielschichtige, nicht unter einen Begriff zu bringende Begegnende wird hinter Kategorien der Eindeutigkeit zum Verschwinden gebracht.
Freiheit und Krisis, S. 166 f.
Abwehr des Nichtseins stellvertretend im Anderen
«[…] es überwiegt die Angst vor dem Tod und die Faszination am Tod der anderen.»
Mario Erdheim, «Das Virus ergreift uns, bevor es uns befällt», Tagesanzeiger 29.02.2020
Ontifizierung / Dingfest-Machen / funktionalistische Reduktion der Angst:
«Wir sind a priori angstbesetzt, weil wir in den Machtverhältnissen, in denen wir aufgewachsen sind, als ganzes Individuum nicht gefragt sind.»
Jeannette Fischer, die die ontologische Bedrohung soziologistisch und wenig psychoanalytisch auf eine Angst vor Machtverhhältnissen reduziert (Ontifizierung der Angst), und die Machtverhältnisse (autoritäre Strukturen) nicht auch und gerade als eine Beruhigung über das Worüber der Angst, über Kontrollverlust und Tod, identifiziert. Ebenso Tanja Walliser: «Aber wir brauchen die Angst, sie weist uns auf Gefahr hin.»
«Inneres Ausland» (Freud) – Jan C. Behmann zur Freiheit in Zeiten der Corona-Krise
«Die meisten Menschen haben ihr inneres Ausland noch nie betreten.»
«Freiheit macht Angst, denn sie ist im Gegenteil zu dem allgemeinen Lebensalltag, eine Entgrenzung.»
Aus der Normalität, die sich als Raum der Freiheit ausgibt, fällt der Mensch nun in die Krise: «Menschen werden psychisch dekompensieren.»
Philosophie der Verwundbarkeit
«Die europäische Philosophie, in deren Zentrum die menschliche Autonomie durch Vernunft steht, macht gegenwärtig einem Denken der Verwundbarkeit Platz. Statt des stolzen Subjekts, das die Welt autonom gestalten konnte, rückt nun das verwundbare, leidende Individuum ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und während in politischen Bewegungen auf der Rechten die Abweisung des Anderen, des störenden Fremden und die aggressive identitäre Besinnung aufs Eigene zunehmen, gewinnt im philosophischen Denken die Entdeckung des kreatürlichen Menschen mit seiner Bedürftigkeit an Raum. Die europäische Zivilisation spürt, dass sie sich durch eine Politik der Abschottung selbst gefährdet, weil mit der Angst vor dem verstörenden Fremden auch die Empfindungsfähigkeit, das Mitleid, die Offenheit für das Unbekannte in Gefahr sind.»
Schuld verstanden als Bewusstsein (oder Ahnung), dass man Öffnung für den Anderen schuldig bleibt
«Lévinas […] spricht von einer Verantwortlichkeit für die Mängel und den Mangel anderer, auch wenn wir ohne Schuld an ihnen sind. Er nennt es eine Schuldigkeit ohne Schuld.»
Corine Pelluchon, https://www.zeit.de/2019/33/emmanuel-levinas-andersartigkeit-verwundbarkeit-sterblichkeit-philosohpie
Ur-Faschismus
Umberto Eco zählt 14 Merkmale des Faschismus (Ur-Faschismus, Proto-Faschismus, des ewigen Faschismus) auf, die sich nicht in ein System ordnen lassen, die auch charakteristisch für andere Arten des Autoritarismus, Despotismus und Fanatismus sind und die sich teilweise sogar widersprechen. «Doch es genügt, dass eines von ihnen präsent ist, damit der Faschismus einen Kristallisationspunkt hat, um den herum er sich bilden kann.» (Eco) Im Grunde genommen ist die Fremdenfeindlichkeit der einzige Programmpunkt. «Um diesen Kernpunkt der Fremdenfeindlichkeit gruppieren sich weitere Merkmale wie ‘das Misstrauen gegenüber der intellektuellen Welt’ [Schuldabwehr, psychoanalytisch: «Widerstand»], die Verunglimpfung des parlamentarischen Systems, die Simplifizierung der Sprache, die Ablehnung von Kultur, soweit sie mit kritischen Haltungen identifiziert wird, die Aufwertung von Waffen, Wehrhaftigkeit und Machismo und die Beschwörung des ‘Volksganzen’ als eine ‘monolithische Entität’.»
Angela Gutzeit, «Die schleichende Bedrohung» (Buchbesprechung), Blätter für deutsche und internationale Politik 4 ’20, S. 121–123, S. 123
https://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus
Ideologische Verkehrung hinsichtlich der Ideologie
Das Problem ist, dass allzu oft diejenigen, die sich ihren unbedingten Pragmatismus zugutehalten, ideologischer als alle anderen sind: Ihre vermeintlich post-ideologische Haltung verhehlt mehr schlecht als recht, wie wenig sie sich um die Fakten scheren, wie gross ihre historische Unkenntnis ist, wie hartnäckig sie ihren Vorurteilen und ihrem Klassenegoismus verhaftet bleiben.
Thomas Piketty, «Die Ideologie der Ungleichheit», in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 ’20, S. 45–52, S. 52
Die marxistische Ideologie der Fremdbestimmung
«Den Markt und den Wettbewerb als solchen gibt es so wenig wie es Gewinn und Lohn, Kapital und Schulden, hochqualifizierte und geringqualifizierte Arbeiter, Einheimische und Fremde, Steuerparadiese und Wettbewerbsfähigkeit als solche gibt. All das sind soziale und historische Konstruktionen […]. Diese Kräfteverhältnisse sind […] keine bloss materiellen, sie sind auch und vor allem intellektuelle und ideologische Kräfteverhältnisse.»
(Thomas Piketty [«Die Ideologie der Ungleichheit», in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4 ’20, S. 45–52, S. 50 f.] gegen marxistische Sichtweisen, «die davon ausgehen, der ideologische ‘Überbau’ werde nachgerade mechanisch vom Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse determiniert».)
Bei solchen Theorien oder Ideologien der Fremdbestimmung kommt dasjenige, welches den Menschen determiniert, entweder ‹von unten› (Trieb) oder ‹von hinten› (genetische Veranlagung, nachwirkende, aber zurückliegende Traumata) oder wie bei Marx ‹von aussen› (Unterdrückungsverhältnisse) oder wie bei den Buchstabengläubigen ‹von oben› (einem Götzen, einem Fetisch) her. Auch beim Geschichtsdeterminismus kommt die Fremdbestimmung ‹von hinten› respektive ‹von oben› (von einer höheren Macht) her. Bei Lacan determinieren und fragmentieren invasive Signifikanten den Menschen: Das System, so liesse sich sagen, ersetzt das Subjekt.
Doch der Mensch bestimmt, determiniert, unterdrückt, verwirft oder wählt sich massgeblich selbst: Freuds Hermeneutik des Triebwunschs kritisierend erklärt der Psychoanalytiker Irvin D. Yalom, dass man nicht nur seine Sexualität, sondern sein gesamtes kreatürliches Selbst und besonders dessen endliche Natur unterdrücken kann.
Freiheit und Krisis, S. 172
Der Mensch ist keineswegs nur durch die ideologisch verfassten Herrschaftsverhältnisse oder Produktionsverhältnisse fremdbestimmt, sondern sucht sehr gezielt und auf eine unbewusst-bewusste Weise sehr selbstbestimmt Zuflucht zu Ideologien, auch wenn er diese Zielgerichtetheit und Selbstbestimmung vor sich selber verdeckt.
Freiheit und Krisis, S. 59
Das Subjekt ist hysterisch (psychotisch) verfasst – gegen die Freud’sche Ontifizierung (Reduktion) der Angst
«Gerade Bion und Lacan [versuchten] die Psychoanalyse vom psychotischen Kern des Menschen her neu zu denken […], der Verstehen, Metaphorisierung und Symbolbildung erschwert, ja verunmöglicht.»
(Robert Heim, Psychoanalyse im Turm zu Babel. Grenzgänge zwischen Melanie Klein, Wilfred R. Bion und Jacques Lacan, Gießen 2020, S. 20 f.)
«Die Abgründe, die sich [Klein und Lacan] erschlossen, lagen in einem psychotischen Kern des Ichs […].» Klein und Lacan «nahmen das Wagnis auf sich, […] das menschliche Seelenleben nicht mehr vorrangig im Prisma der Neurose, sondern im Lichte seiner psychotischen Grundstruktur mit ihren archaischen Ängsten zu bestimmen». Dieses Wagnis ging «mit einer neuen Qualität der Angst» einher.
(Ders., ebd., S. 44)
«Was Klein und Lacan in erster Linie […] vereint, ist die Erforschung der psychotischen Grundlagen des Ichs […]. Jeder vermeintlich reifere neurotische Konflikt, auch die perversen Strukturen oder die Borderline-Phänomene, sind immer nur Überbau, der sich über weit archaischere, von Spaltung, Idealisierung und projektiver Identifizierung geprägte Szenarien des Unbewussten wölbt. Dieser Überbau hat sein Fundament in Zerstörungs- und Vernichtungsängsten, mit denen das Ich nicht nur in seinen Frühstadien, sondern ein Leben lang immer wieder konfrontiert bleibt.»
(Ders., ebd., S. 65)
«Sozialdarwinismus als Scharnier zwischen Faschismus und Marktradikalismus»
«Sozialdarwinismus beschreibt die Idee, dass unproduktive beziehungsweise schwache Mitglieder einer Gemeinschaft kein Anrecht auf Schutz haben oder sogar aktiv beseitigt werden müssen. In einer grotesken Verzerrung der Erkenntnisse Darwins werden so gesellschaftliche und politische Imperative geformt. Schwäche ist im Faschismus nichts Schützenswertes, sondern ein verachtenswerter Zustand. […] Das führt dazu, dass sie in dieser Ideologie klar bestimmten Gruppen zuzuordnen ist und so mitsamt diesen Gruppen ausgerottet werden kann. […] Marktradikale Ideologen treibt vor allem die Verachtung von Armen an […] im Glauben an die eigene Unverwundbarkeit […]. Vielmehr glaubt man an die eigene Unbesiegbarkeit. Auch diese Idee des eigenen unbezwingbaren Heroismus findet sich im Rechtsextremismus als Komplementärerzählung zur Schwäche der Anderen wieder. Soldatische, heroische Männlichkeit steht im Mittelpunkt faschistischer Ideologie. […] Es bleibt die Frage, nach wem sich eine demokratische Gesellschaft auszurichten hat: Nach den Bedürfnissen der Schwachen oder denen der Starken? Die Antwort darauf macht den Unterschied zwischen Demokratie und Faschismus aus.»
Natascha Strobl, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-hass-auf-alles-schwache
Kern JEDES Faschismus ist der Hass auf das eigene Schwachsein (Vulnerabilität, Sterblichkeit, Unverfügbarkeit…) stellvertretend in Schwachen und Hass auf die entsprechende (unspezifische, ontologische) Bedrohung stellvertretend in Fremden – letztlich Hass auf das nackte, ungeschminkte Leben, das andere zu repräsentieren haben (projektive Identifizierung).
Dingfest-Machen der Angst: Umwandlung von Angst in Furcht
«Lacan sprach in seinem Kommentar zu Freuds Fallgeschichte der Angsthysterie des ‘Kleinen Hans’ vom bedrohlichen, stürzenden und beissenden ‘Pferd’ als einem rohen, in diesem Fall ‘phobischen Signifikanten’, auf den Hans zufällig in einem Bilderbuch stiess. Unmissverständlich lässt Lacan einige Passagen folgen, in denen er diesem Signifikanten bereits die Funktion eines Containers zuweist: Er hat die ‘Stabilisierung gewisser Zustände sicherzustellen’ […], also Kastrationsangst in lokalisierte Furcht abzumildern, einer namenlosen Angst und Bedrohung wenigstens einen Tiernamen zu geben. Und wiederum ist die Rede vom Signifikanten, hier nun von dem des Pferdes, als einem Halt, einem Anhalt, einem Anhaltepunkt, ‘um den herum das Subjekt weiterhin sich drehen lassen kann, was ansonsten sich in einer unmöglich zu ertragenden Angst […] kundtun würde […].»
(Robert Heim, Psychoanalyse im Turm zu Babel. Grenzgänge zwischen Melanie Klein, Wilfred R. Bion und Jacques Lacan, Gießen 2020, S. 140)
«Nicht ablassen von seinem Begehren»
Wenn Lacan in Ethik der Psychoanalyse sagt, «dass es nur eines gibt, dessen man schuldig sein kann, zumindest in analytischer Perspektive, und das ist, abgelassen zu haben von seinem Begehren», dann ist damit kein Begehren im Rahmen eines Anerkennungswettbewerbs gemeint, sondern im Gegenteil eine Loslösung von Über-Ich-Imperativen: die Selbstwahl und (Selbst-)Verantwortung des Lebens (Metanoia), «eine Selbstverantwortung jenseits quälender unbewusster Schuldgefühle» (Robert Heim). Hier liegt ein ganz anderes Begehren vor als das «Begehren des Begehrens des Anderen», verstanden als ein Begehren, das nicht ‘auf sich selber’ steht, sondern immer darauf schielt, wie man beim Andern ankommt.
(Vgl. Robert Heim, Psychoanalyse im Turm zu Babel. Grenzgänge zwischen Melanie Klein, Wilfred R. Bion und Jacques Lacan, Gießen 2020, S. 141)